und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei soll er ihn zum Casseführer gemacht, d. h. ihn auf einen Posten gestellt haben, auf welchem sein Hang, sich auf jede, wenn auch unrechte Art Gewinn zu schaffen, die reichste Nah- rung bekommen musste? er soll ihn durch Gelegenheit zum Dieb gemacht, und sich, wie absichtlich, an ihm einen Ver- räther gross gezogen haben? Schon vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet: wer vertraut denn einem eine Casse an, von dem er weiss, dass er sie bestiehlt? dann pädagogisch: wer stellt den Schwachen auf einen Plaz, der gerade seine schwache Seite so beständig in Anspruch nimmt, dass vorauszusehen ist, er müsse früher oder spä- ter unterliegen? Nein in der That, so hat Jesus mit den ihm zunächst anvertrauten Seelen nicht gespielt, so nicht das Gegentheil von dem ihnen erwiesen, was er sie beten lehrte: me eisenegkes emas eis peirasmon (Matth. 6, 13.), dass er den Judas, von welchem er vorauswusste, er werde aus Gewinnsucht sein Verräther werden, zum Casseführer er- nannt haben könnte; oder wenn er ihn dazu machte, so kann er jenes Vorherwissen nicht gehabt haben.
Um in dieser Alternative zu einer Entscheidung zu gelangen, müssen wir jenes Vorherwissen für sich nehmen, und sehen, ob es abgesehen von dem Cassenamt des Judas wahrscheinlich ist oder nicht? Auf die Frage nach der psychologischen Möglichkeit wollen wir uns nicht einlassen, da es ja immer frei steht, sich auf die göttliche Natur in Jesu zu berufen; aber von der moralischen Möglichkeit wird es sich fragen, ob es bei jener Voraussicht zu recht- fertigen sei, dass Jesus den Judas unter die Zwölfe ge- wählt, und in diesem Kreise behalten habe? Da durch diese Berufung sein Verrath als solcher erst möglich wur- de, so scheint Jesus, wenn er diesen vorherwusste, und den Judas doch berief, ihn absichtlich in jene Sünde hin- eingezogen zu haben. Man wendet ein, durch den Um- gang mit Jesu sei dem Judas ja auch die Möglichkeit ge-
Das Leben Jesu II. Band. 25
Zweites Kapitel. §. 114.
und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei soll er ihn zum Casseführer gemacht, d. h. ihn auf einen Posten gestellt haben, auf welchem sein Hang, sich auf jede, wenn auch unrechte Art Gewinn zu schaffen, die reichste Nah- rung bekommen muſste? er soll ihn durch Gelegenheit zum Dieb gemacht, und sich, wie absichtlich, an ihm einen Ver- räther groſs gezogen haben? Schon vom ökonomischen Standpunkt aus betrachtet: wer vertraut denn einem eine Casse an, von dem er weiſs, daſs er sie bestiehlt? dann pädagogisch: wer stellt den Schwachen auf einen Plaz, der gerade seine schwache Seite so beständig in Anspruch nimmt, daſs vorauszusehen ist, er müsse früher oder spä- ter unterliegen? Nein in der That, so hat Jesus mit den ihm zunächst anvertrauten Seelen nicht gespielt, so nicht das Gegentheil von dem ihnen erwiesen, was er sie beten lehrte: μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμὸν (Matth. 6, 13.), daſs er den Judas, von welchem er vorauswuſste, er werde aus Gewinnsucht sein Verräther werden, zum Casseführer er- nannt haben könnte; oder wenn er ihn dazu machte, so kann er jenes Vorherwissen nicht gehabt haben.
Um in dieser Alternative zu einer Entscheidung zu gelangen, müssen wir jenes Vorherwissen für sich nehmen, und sehen, ob es abgesehen von dem Cassenamt des Judas wahrscheinlich ist oder nicht? Auf die Frage nach der psychologischen Möglichkeit wollen wir uns nicht einlassen, da es ja immer frei steht, sich auf die göttliche Natur in Jesu zu berufen; aber von der moralischen Möglichkeit wird es sich fragen, ob es bei jener Voraussicht zu recht- fertigen sei, daſs Jesus den Judas unter die Zwölfe ge- wählt, und in diesem Kreise behalten habe? Da durch diese Berufung sein Verrath als solcher erst möglich wur- de, so scheint Jesus, wenn er diesen vorherwuſste, und den Judas doch berief, ihn absichtlich in jene Sünde hin- eingezogen zu haben. Man wendet ein, durch den Um- gang mit Jesu sei dem Judas ja auch die Möglichkeit ge-
Das Leben Jesu II. Band. 25
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Zweites Kapitel. §. 114.
und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei soll er
ihn zum Casseführer gemacht, d. h. ihn auf einen Posten
gestellt haben, auf welchem sein Hang, sich auf jede, wenn
auch unrechte Art Gewinn zu schaffen, die reichste Nah-
rung bekommen muſste? er soll ihn durch Gelegenheit zum
Dieb gemacht, und sich, wie absichtlich, an ihm einen Ver-
räther groſs gezogen haben? Schon vom ökonomischen
Standpunkt aus betrachtet: wer vertraut denn einem eine
Casse an, von dem er weiſs, daſs er sie bestiehlt? dann
pädagogisch: wer stellt den Schwachen auf einen Plaz,
der gerade seine schwache Seite so beständig in Anspruch
nimmt, daſs vorauszusehen ist, er müsse früher oder spä-
ter unterliegen? Nein in der That, so hat Jesus mit den
ihm zunächst anvertrauten Seelen nicht gespielt, so nicht
das Gegentheil von dem ihnen erwiesen, was er sie beten
lehrte: μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμὸν (Matth. 6, 13.), daſs
er den Judas, von welchem er vorauswuſste, er werde aus
Gewinnsucht sein Verräther werden, zum Casseführer er-
nannt haben könnte; oder wenn er ihn dazu machte, so
kann er jenes Vorherwissen nicht gehabt haben.
Um in dieser Alternative zu einer Entscheidung zu
gelangen, müssen wir jenes Vorherwissen für sich nehmen,
und sehen, ob es abgesehen von dem Cassenamt des Judas
wahrscheinlich ist oder nicht? Auf die Frage nach der
psychologischen Möglichkeit wollen wir uns nicht einlassen,
da es ja immer frei steht, sich auf die göttliche Natur in
Jesu zu berufen; aber von der moralischen Möglichkeit
wird es sich fragen, ob es bei jener Voraussicht zu recht-
fertigen sei, daſs Jesus den Judas unter die Zwölfe ge-
wählt, und in diesem Kreise behalten habe? Da durch
diese Berufung sein Verrath als solcher erst möglich wur-
de, so scheint Jesus, wenn er diesen vorherwuſste, und
den Judas doch berief, ihn absichtlich in jene Sünde hin-
eingezogen zu haben. Man wendet ein, durch den Um-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/404>, abgerufen am 23.11.2024.
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