haupt ein Vorauswissen und Voraussagen seines Leidens von Seiten Jesu wahrscheinlich sei; wobei dann der Un- terschied zwischen der synoptischen und johanneischen Dar- stellung von selbst zur Sprache kommen wird.
Wie Jesus die einzelnen Umstände seines Leidens und Sterbens so genau vorherwissen konnte, davon giebt es eine doppelte Erklärungsweise, eine supranaturale und eine na- türliche. Die erstere scheint ihre Aufgabe durch die ein- fache Berufung darauf lösen zu können, dass vor dem pro- phetischen Geiste, welcher Jesu in höchster Fülle inwohn- te, von Anfang an sein Schicksal in allen einzelnen Zügen ausgebreitet gelegen haben müsse. Da indessen Jesus selbst bei seinen Leidensverkündigungen ausdrücklich sich auf das A. T. berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stü- cken erfüllt werden müssten (Luc. 18, 31. vgl. 22, 37. 24, 25 ff. Matth. 16, 21. 26, 54.): so darf die orthodoxe Betrachtungsweise diese Hülfe nicht verschmähen, sondern muss der Sache die Wendung geben, Jesus habe, lebend und webend in den Weissagungen des A. T., aus ihnen mit Hülfe des ihm inwohnenden Geistes jene Specialitäten schöpfen können 2). Demnach müsste Jesus, während die Kunde von der Zeit seines Leidens, wenn er diese nicht etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet ha- ben soll, seinem prophetischen Vorgefühl überlassen bliebe, auf Jerusalem als den Ort seines Leidens und Todes durch Betrachtung des Schicksals früherer Propheten als Typus des seinigen in der Art gekommen sein, dass der Geist ihm sagte, wo so viele Propheten, da müsse nach höherer Consequenz auch der Messias den Tod erleiden (Luc. 13, 33.); auf seinen Untergang in Folge förmlicher Verurtheilung müsste ihn etwa diess geführt haben, dass Jes. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes verhängten msh@p'at, und V. 12. davon die Rede ist, dass er en tois ano-
2) vgl. Olshausen, b. Comm. 1, S. 528.
Das Leben Jesu II. Band. 20
Erstes Kapitel. §. 107.
haupt ein Vorauswissen und Voraussagen seines Leidens von Seiten Jesu wahrscheinlich sei; wobei dann der Un- terschied zwischen der synoptischen und johanneischen Dar- stellung von selbst zur Sprache kommen wird.
Wie Jesus die einzelnen Umstände seines Leidens und Sterbens so genau vorherwissen konnte, davon giebt es eine doppelte Erklärungsweise, eine supranaturale und eine na- türliche. Die erstere scheint ihre Aufgabe durch die ein- fache Berufung darauf lösen zu können, daſs vor dem pro- phetischen Geiste, welcher Jesu in höchster Fülle inwohn- te, von Anfang an sein Schicksal in allen einzelnen Zügen ausgebreitet gelegen haben müsse. Da indessen Jesus selbst bei seinen Leidensverkündigungen ausdrücklich sich auf das A. T. berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stü- cken erfüllt werden müſsten (Luc. 18, 31. vgl. 22, 37. 24, 25 ff. Matth. 16, 21. 26, 54.): so darf die orthodoxe Betrachtungsweise diese Hülfe nicht verschmähen, sondern muſs der Sache die Wendung geben, Jesus habe, lebend und webend in den Weissagungen des A. T., aus ihnen mit Hülfe des ihm inwohnenden Geistes jene Specialitäten schöpfen können 2). Demnach müſste Jesus, während die Kunde von der Zeit seines Leidens, wenn er diese nicht etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet ha- ben soll, seinem prophetischen Vorgefühl überlassen bliebe, auf Jerusalem als den Ort seines Leidens und Todes durch Betrachtung des Schicksals früherer Propheten als Typus des seinigen in der Art gekommen sein, daſs der Geist ihm sagte, wo so viele Propheten, da müsse nach höherer Consequenz auch der Messias den Tod erleiden (Luc. 13, 33.); auf seinen Untergang in Folge förmlicher Verurtheilung müſste ihn etwa dieſs geführt haben, daſs Jes. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes verhängten מׅשְׁפָּט, und V. 12. davon die Rede ist, daſs er ἐν τοῖς ἀνό-
2) vgl. Olshausen, b. Comm. 1, S. 528.
Das Leben Jesu II. Band. 20
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Erstes Kapitel. §. 107.
haupt ein Vorauswissen und Voraussagen seines Leidens
von Seiten Jesu wahrscheinlich sei; wobei dann der Un-
terschied zwischen der synoptischen und johanneischen Dar-
stellung von selbst zur Sprache kommen wird.
Wie Jesus die einzelnen Umstände seines Leidens und
Sterbens so genau vorherwissen konnte, davon giebt es eine
doppelte Erklärungsweise, eine supranaturale und eine na-
türliche. Die erstere scheint ihre Aufgabe durch die ein-
fache Berufung darauf lösen zu können, daſs vor dem pro-
phetischen Geiste, welcher Jesu in höchster Fülle inwohn-
te, von Anfang an sein Schicksal in allen einzelnen Zügen
ausgebreitet gelegen haben müsse. Da indessen Jesus selbst
bei seinen Leidensverkündigungen ausdrücklich sich auf das
A. T. berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stü-
cken erfüllt werden müſsten (Luc. 18, 31. vgl. 22, 37.
24, 25 ff. Matth. 16, 21. 26, 54.): so darf die orthodoxe
Betrachtungsweise diese Hülfe nicht verschmähen, sondern
muſs der Sache die Wendung geben, Jesus habe, lebend
und webend in den Weissagungen des A. T., aus ihnen
mit Hülfe des ihm inwohnenden Geistes jene Specialitäten
schöpfen können 2). Demnach müſste Jesus, während die
Kunde von der Zeit seines Leidens, wenn er diese nicht
etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet ha-
ben soll, seinem prophetischen Vorgefühl überlassen bliebe,
auf Jerusalem als den Ort seines Leidens und Todes
durch Betrachtung des Schicksals früherer Propheten als
Typus des seinigen in der Art gekommen sein, daſs der
Geist ihm sagte, wo so viele Propheten, da müsse nach
höherer Consequenz auch der Messias den Tod erleiden
(Luc. 13, 33.); auf seinen Untergang in Folge förmlicher
Verurtheilung müſste ihn etwa dieſs geführt haben, daſs
Jes. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes verhängten
מׅשְׁפָּט, und V. 12. davon die Rede ist, daſs er ἐν τοῖς ἀνό-
2) vgl. Olshausen, b. Comm. 1, S. 528.
Das Leben Jesu II. Band. 20
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/324>, abgerufen am 24.11.2024.
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