Eine so totale Abweichung musste die Harmonisten in ungewöhnliche Geschäftigkeit versetzen. Der Aufbruch aus Galiläa, dessen die Synoptiker gedenken, soll nach ih- nen nicht der Aufbruch zum lezten Pascha, sondern zum Fest der Tempelweihe gewesen sein 6), unerachtet er von Lukas durch das en to sumplerousthai tas emeras tes ana- lepseos autou (9, 51.) unverkennbar als Aufbruch zu dem- jenigen Feste, auf welchem Leiden und Tod Jesu warte- ten, bezeichnet ist, und sämmtliche Synoptiker die hier be- gonnene Reise mit jenem festlichen Einzug in Jerusalem endigen lassen, welcher auch dem vierten Evangelium zu- folge unmittelbar vor dem lezten Paschafest erfolgt ist 7). Soll hienach der Aufbruch aus Galiläa, von welchem sie erzählen, der zum Enkänienfest, die Ankunft in Jerusalem aber, welche sie melden, die zum späteren Pascha gewe- sen sein: so müssten sie das nach dieser Voraussetzung zwischen beiden Punkten Liegende, nämlich Jesu Ankunft und Aufenthalt in Jerusalem zum Fest der Tempelweihe, seine Reise von da nach Peräa, von Peräa nach Bethanien, und von hier nach Ephraim, ganz übergangen haben. Scheint hieraus zu folgen, dass jene Berichterstatter von allem Diesem auch nichts gewusst haben: so soll vielmehr, wie geltend gemacht wird, Lukas dadurch, dass er bald nach der Abreise aus Galiläa Jesum auf Schriftgelehrte stossen lasse, die ihn auf die Probe stellen wollen (10, 25 ff.), dann ihn in dem Jerusalem benachbarten Bethanien zeige (10, 38 ff.), hierauf ihn wieder rückwärts an die Grenzscheide von Samarien und Galiläa versetze (17, 11.), und erst als- dann ihn zum Pascha in Jerusalem einziehen lasse (19, 29 ff.), deutlich genug darauf hinweisen, dass zwischen je- ner Abreise und dieser Ankunft Jesus schon einmal nach Judäa und Jerusalem, und von da wieder zurück gereist
6)Paulus, 2, S. 293, 554. Vgl. Olshausen, 1, S. 583.
7)Schleiermacher, a. a. O. S. 159.
Zweiter Abschnitt.
Eine so totale Abweichung muſste die Harmonisten in ungewöhnliche Geschäftigkeit versetzen. Der Aufbruch aus Galiläa, dessen die Synoptiker gedenken, soll nach ih- nen nicht der Aufbruch zum lezten Pascha, sondern zum Fest der Tempelweihe gewesen sein 6), unerachtet er von Lukas durch das ἐν τῷ συμπληροῦσϑαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀνα- λήψεως αὐτοῦ (9, 51.) unverkennbar als Aufbruch zu dem- jenigen Feste, auf welchem Leiden und Tod Jesu warte- ten, bezeichnet ist, und sämmtliche Synoptiker die hier be- gonnene Reise mit jenem festlichen Einzug in Jerusalem endigen lassen, welcher auch dem vierten Evangelium zu- folge unmittelbar vor dem lezten Paschafest erfolgt ist 7). Soll hienach der Aufbruch aus Galiläa, von welchem sie erzählen, der zum Enkänienfest, die Ankunft in Jerusalem aber, welche sie melden, die zum späteren Pascha gewe- sen sein: so müſsten sie das nach dieser Voraussetzung zwischen beiden Punkten Liegende, nämlich Jesu Ankunft und Aufenthalt in Jerusalem zum Fest der Tempelweihe, seine Reise von da nach Peräa, von Peräa nach Bethanien, und von hier nach Ephraim, ganz übergangen haben. Scheint hieraus zu folgen, daſs jene Berichterstatter von allem Diesem auch nichts gewuſst haben: so soll vielmehr, wie geltend gemacht wird, Lukas dadurch, daſs er bald nach der Abreise aus Galiläa Jesum auf Schriftgelehrte stoſsen lasse, die ihn auf die Probe stellen wollen (10, 25 ff.), dann ihn in dem Jerusalem benachbarten Bethanien zeige (10, 38 ff.), hierauf ihn wieder rückwärts an die Grenzscheide von Samarien und Galiläa versetze (17, 11.), und erst als- dann ihn zum Pascha in Jerusalem einziehen lasse (19, 29 ff.), deutlich genug darauf hinweisen, daſs zwischen je- ner Abreise und dieser Ankunft Jesus schon einmal nach Judäa und Jerusalem, und von da wieder zurück gereist
6)Paulus, 2, S. 293, 554. Vgl. Olshausen, 1, S. 583.
7)Schleiermacher, a. a. O. S. 159.
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Zweiter Abschnitt.
Eine so totale Abweichung muſste die Harmonisten
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aus Galiläa, dessen die Synoptiker gedenken, soll nach ih-
nen nicht der Aufbruch zum lezten Pascha, sondern zum
Fest der Tempelweihe gewesen sein 6), unerachtet er von
Lukas durch das ἐν τῷ συμπληροῦσϑαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀνα-
λήψεως αὐτοῦ (9, 51.) unverkennbar als Aufbruch zu dem-
jenigen Feste, auf welchem Leiden und Tod Jesu warte-
ten, bezeichnet ist, und sämmtliche Synoptiker die hier be-
gonnene Reise mit jenem festlichen Einzug in Jerusalem
endigen lassen, welcher auch dem vierten Evangelium zu-
folge unmittelbar vor dem lezten Paschafest erfolgt ist 7).
Soll hienach der Aufbruch aus Galiläa, von welchem sie
erzählen, der zum Enkänienfest, die Ankunft in Jerusalem
aber, welche sie melden, die zum späteren Pascha gewe-
sen sein: so müſsten sie das nach dieser Voraussetzung
zwischen beiden Punkten Liegende, nämlich Jesu Ankunft
und Aufenthalt in Jerusalem zum Fest der Tempelweihe,
seine Reise von da nach Peräa, von Peräa nach Bethanien,
und von hier nach Ephraim, ganz übergangen haben. Scheint
hieraus zu folgen, daſs jene Berichterstatter von allem
Diesem auch nichts gewuſst haben: so soll vielmehr, wie
geltend gemacht wird, Lukas dadurch, daſs er bald nach
der Abreise aus Galiläa Jesum auf Schriftgelehrte stoſsen
lasse, die ihn auf die Probe stellen wollen (10, 25 ff.), dann
ihn in dem Jerusalem benachbarten Bethanien zeige (10,
38 ff.), hierauf ihn wieder rückwärts an die Grenzscheide
von Samarien und Galiläa versetze (17, 11.), und erst als-
dann ihn zum Pascha in Jerusalem einziehen lasse (19,
29 ff.), deutlich genug darauf hinweisen, daſs zwischen je-
ner Abreise und dieser Ankunft Jesus schon einmal nach
Judäa und Jerusalem, und von da wieder zurück gereist
6) Paulus, 2, S. 293, 554. Vgl. Olshausen, 1, S. 583.
7) Schleiermacher, a. a. O. S. 159.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/297>, abgerufen am 22.11.2024.
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