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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 100.
Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums
fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen
es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro-
cess des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst
von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht
nehmen zu lassen. -- Mit seiner Behauptung übrigens, es
sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge-
wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's
gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit
die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht
reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst
um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei-
ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird.
Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst
und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen-
baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume
angetroffen werden 13), wie denn nach Josephus ein Theil
von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich
fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag-
liche Geschichte vorgieng) sukon deka mesin adialeiptos
khoregei 14).

Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings
erschwerende Notiz des Markus, dass der Mangel des
Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver-
möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die
Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat-
thäus noch das Missverhältniss, dass Jesus wegen eines
vielleicht bloss vorübergehenden Mangels einen Naturgegen-
stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder
ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des
Baumes war, noch auch moralische Absichten -- auf einen

13) s. Paulus, a. a. O. S. 168 f.; Winer, b. Realw. d. A. Fei-
genbaum.
14) bell. jud. 3, 10, 8.

Neuntes Kapitel. §. 100.
Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums
fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen
es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro-
ceſs des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst
von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht
nehmen zu lassen. — Mit seiner Behauptung übrigens, es
sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge-
wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's
gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit
die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht
reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst
um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei-
ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird.
Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst
und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen-
baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume
angetroffen werden 13), wie denn nach Josephus ein Theil
von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich
fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag-
liche Geschichte vorgieng) σῦκον δέκα μησὶν ἀδιαλείπτως
χορηγεῖ 14).

Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings
erschwerende Notiz des Markus, daſs der Mangel des
Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver-
möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die
Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat-
thäus noch das Miſsverhältniſs, daſs Jesus wegen eines
vielleicht bloſs vorübergehenden Mangels einen Naturgegen-
stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder
ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des
Baumes war, noch auch moralische Absichten — auf einen

13) s. Paulus, a. a. O. S. 168 f.; Winer, b. Realw. d. A. Fei-
genbaum.
14) bell. jud. 3, 10, 8.
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[245/0264] Neuntes Kapitel. §. 100. Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro- ceſs des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht nehmen zu lassen. — Mit seiner Behauptung übrigens, es sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge- wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei- ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird. Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen- baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume angetroffen werden 13), wie denn nach Josephus ein Theil von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag- liche Geschichte vorgieng) σῦκον δέκα μησὶν ἀδιαλείπτως χορηγεῖ 14). Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings erschwerende Notiz des Markus, daſs der Mangel des Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver- möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat- thäus noch das Miſsverhältniſs, daſs Jesus wegen eines vielleicht bloſs vorübergehenden Mangels einen Naturgegen- stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des Baumes war, noch auch moralische Absichten — auf einen 13) s. Paulus, a. a. O. S. 168 f.; Winer, b. Realw. d. A. Fei- genbaum. 14) bell. jud. 3, 10, 8.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/264>, abgerufen am 09.05.2024.