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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 100.
keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier
vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst
in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht:
nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt
wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien
findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ-
te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewusstsein Jesu
ausspricht, dass eine Benützung der Wunderkraft, um Stra-
fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be-
rufs widerspreche, und dasselbe Bewusstsein spricht der
Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: kala-
mon suntetrimmenon oukateaxei k. t. l. auf ihn anwendet
(Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen
Verfahren gemäss hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum
neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen,
und um seine diessmalige Handlungsweise zu begreifen,
müssten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel-
che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen
Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen
sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit,
bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An-
lass der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und
seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra-
ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias
Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie
Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem
sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich
nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie
dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen
hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht
in der erwünschten Verfassung traf. Statt dass nun hierin
ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen,
ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle
möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte
bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der

Neuntes Kapitel. §. 100.
keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier
vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst
in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht:
nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt
wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien
findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ-
te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewuſstsein Jesu
ausspricht, daſs eine Benützung der Wunderkraft, um Stra-
fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be-
rufs widerspreche, und dasselbe Bewuſstsein spricht der
Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: κάλα-
μον συντετριμμένον ουκατεάξει κ. τ. λ. auf ihn anwendet
(Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen
Verfahren gemäſs hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum
neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen,
und um seine dieſsmalige Handlungsweise zu begreifen,
müſsten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel-
che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen
Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen
sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit,
bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An-
laſs der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und
seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra-
ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias
Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie
Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem
sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich
nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie
dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen
hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht
in der erwünschten Verfassung traf. Statt daſs nun hierin
ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen,
ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle
möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte
bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der

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[239/0258] Neuntes Kapitel. §. 100. keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht: nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ- te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewuſstsein Jesu ausspricht, daſs eine Benützung der Wunderkraft, um Stra- fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be- rufs widerspreche, und dasselbe Bewuſstsein spricht der Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: κάλα- μον συντετριμμένον ουκατεάξει κ. τ. λ. auf ihn anwendet (Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen Verfahren gemäſs hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen, und um seine dieſsmalige Handlungsweise zu begreifen, müſsten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel- che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit, bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An- laſs der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra- ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht in der erwünschten Verfassung traf. Statt daſs nun hierin ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen, ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/258>, abgerufen am 25.11.2024.