Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch deren poetische Ausmalung Lavater der orthodoxen An- sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat 10). Denn die- ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange einigermassen glaublich erscheinen können, als man sie im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten weiss: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al- len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel- gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel- chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach- sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich- keit, sondern in ein ganz anderes.
Wie grossen Dank verdient daher auch hier die ratio- nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, dass sie uns von der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen, auf die leichteste Weise zu befreien weiss. Hören wir Dr. Paulus11), so wollen die Evangelisten gar kein Wun- der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä- rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er- zählen, ist nach ihm nur so viel, dass Jesus seinen gerin- gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und dass in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be- kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge- lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen, dass, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie- ten hatte, dennoch die grosse Volksmasse habe gesättigt werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er- gebe sich aus der historischen Combination der Umstände. Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein- lich zum grösseren Theil aus einer Festkaravane bestan-
10) Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.
11) exeg. Handb. 2, S. 205 ff.
Zweiter Abschnitt.
Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch deren poëtische Ausmalung Lavater der orthodoxen An- sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat 10). Denn die- ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al- len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel- gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel- chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach- sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich- keit, sondern in ein ganz anderes.
Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio- nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen, auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir Dr. Paulus11), so wollen die Evangelisten gar kein Wun- der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä- rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er- zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin- gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be- kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge- lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen, daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie- ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er- gebe sich aus der historischen Combination der Umstände. Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein- lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan-
10) Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.
11) exeg. Handb. 2, S. 205 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0227"n="208"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch<lb/>
deren poëtische Ausmalung <hirendition="#k">Lavater</hi> der orthodoxen An-<lb/>
sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat <noteplace="foot"n="10)">Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.</note>. Denn die-<lb/>
ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange<lb/>
einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie<lb/>
im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten<lb/>
weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al-<lb/>
len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel-<lb/>
gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden<lb/>
wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel-<lb/>
chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren<lb/>
allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach-<lb/>
sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich-<lb/>
keit, sondern in ein ganz anderes.</p><lb/><p>Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio-<lb/>
nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von<lb/>
der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen,<lb/>
auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir<lb/>
Dr. <hirendition="#k">Paulus</hi><noteplace="foot"n="11)">exeg. Handb. 2, S. 205 ff.</note>, so wollen die Evangelisten gar kein Wun-<lb/>
der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä-<lb/>
rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er-<lb/>
zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin-<lb/>
gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und<lb/>
daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be-<lb/>
kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge-<lb/>
lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen,<lb/>
daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie-<lb/>
ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt<lb/>
werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er-<lb/>
gebe sich aus der historischen Combination der Umstände.<lb/>
Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein-<lb/>
lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[208/0227]
Zweiter Abschnitt.
Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch
deren poëtische Ausmalung Lavater der orthodoxen An-
sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat 10). Denn die-
ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange
einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie
im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten
weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al-
len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel-
gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden
wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel-
chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren
allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach-
sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich-
keit, sondern in ein ganz anderes.
Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio-
nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von
der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen,
auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir
Dr. Paulus 11), so wollen die Evangelisten gar kein Wun-
der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä-
rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er-
zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin-
gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und
daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be-
kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge-
lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen,
daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie-
ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt
werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er-
gebe sich aus der historischen Combination der Umstände.
Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein-
lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan-
10) Jesus Messias, 2. Bd. No. 14. 15 und 20.
11) exeg. Handb. 2, S. 205 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/227>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.