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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 96.
falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa-
ren, schon den Tod der Jairustochter als einen blossen
Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er
nun von Lazarus sagte: kekoimetai und exupniso auton,
an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden
Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und
so musste den Jüngern alsbald einfallen, dass hier vielmehr
in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer koimesis
die Rede sei. Dass statt dessen die Jünger das tiefer Ge-
meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die
Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon
an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es
war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren
gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen,
und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe-
sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre-
chendes Missverständniss.

Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der
synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be-
greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des
Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluss, dass
derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl
auch im Stande gewesen sein müsste, den Tod des Laza-
rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene
und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei-
den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol-
che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten
Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen
waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser
judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht
mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in
der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es
ja von beiden ausdrücklich heisst, das Gerücht von densel-
ben habe sich eis olen ten gen ekeinen, en ole te Ioudaia kai
en pase te perikhoro verbreitet. Den wirklichen Juden

Neuntes Kapitel. §. 96.
falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa-
ren, schon den Tod der Jairustochter als einen bloſsen
Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er
nun von Lazarus sagte: κεκοίμηται und ἐξυπνίσω αὐτον,
an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden
Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und
so muſste den Jüngern alsbald einfallen, daſs hier vielmehr
in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer κοίμησις
die Rede sei. Daſs statt dessen die Jünger das tiefer Ge-
meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die
Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon
an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es
war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren
gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen,
und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe-
sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre-
chendes Miſsverständniſs.

Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der
synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be-
greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des
Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluſs, daſs
derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl
auch im Stande gewesen sein müſste, den Tod des Laza-
rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene
und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei-
den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol-
che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten
Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen
waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser
judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht
mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in
der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es
ja von beiden ausdrücklich heiſst, das Gerücht von densel-
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[159/0178] Neuntes Kapitel. §. 96. falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa- ren, schon den Tod der Jairustochter als einen bloſsen Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er nun von Lazarus sagte: κεκοίμηται und ἐξυπνίσω αὐτον, an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und so muſste den Jüngern alsbald einfallen, daſs hier vielmehr in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer κοίμησις die Rede sei. Daſs statt dessen die Jünger das tiefer Ge- meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen, und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe- sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre- chendes Miſsverständniſs. Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be- greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluſs, daſs derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl auch im Stande gewesen sein müſste, den Tod des Laza- rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei- den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol- che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es ja von beiden ausdrücklich heiſst, das Gerücht von densel- ben habe sich εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην, ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ καὶ ἐν πάσῃ τῇ περιχώρῳ verbreitet. Den wirklichen Juden

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/178>, abgerufen am 27.04.2024.