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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder-
kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken
müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be-
wusstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma-
chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch
auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun
aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit
dem Leben auch das Bewusstsein entflohen ist, hat den lez-
ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder-
thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt
keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig-
keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer-
den muss. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei-
gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche
von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un-
fähigkeit bekennen müssen.

Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs-
geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt.
Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie
wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange-
henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was
dieser noch fehlte 30). Die Jairustochter erweckt Jesus
noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver-
schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg
und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich
nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je-
ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, dass
das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe-
sen: so wurde diess in der zweiten Geschichte durch den
Zug, dass man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus
zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge-
prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft
verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an-

30) Disc. 5.

Zweiter Abschnitt.
war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder-
kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken
müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be-
wuſstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma-
chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch
auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun
aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit
dem Leben auch das Bewuſstsein entflohen ist, hat den lez-
ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder-
thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt
keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig-
keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer-
den muſs. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei-
gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche
von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un-
fähigkeit bekennen müssen.

Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs-
geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt.
Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie
wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange-
henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was
dieser noch fehlte 30). Die Jairustochter erweckt Jesus
noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver-
schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg
und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich
nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je-
ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, daſs
das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe-
sen: so wurde dieſs in der zweiten Geschichte durch den
Zug, daſs man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus
zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge-
prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft
verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an-

30) Disc. 5.
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[154/0173] Zweiter Abschnitt. war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder- kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be- wuſstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma- chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit dem Leben auch das Bewuſstsein entflohen ist, hat den lez- ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder- thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig- keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer- den muſs. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei- gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un- fähigkeit bekennen müssen. Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs- geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt. Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange- henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was dieser noch fehlte 30). Die Jairustochter erweckt Jesus noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver- schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je- ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, daſs das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe- sen: so wurde dieſs in der zweiten Geschichte durch den Zug, daſs man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge- prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an- 30) Disc. 5.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/173>, abgerufen am 27.04.2024.