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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 96.
und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be-
wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er
sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie-
genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer
untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über-
zeugung, dass er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe
gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren,
wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie
konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum
als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel-
len, wenn er sich bewusst war, die Wiederbelebung des
Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben?
Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des
schon Begrabenen wird unsre Unkenntniss der näheren Um-
stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben
bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften-
den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt,
welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft
strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den
niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten
Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die
Gewissheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün-
digt, unvereinbar bleiben muss 27).

Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin-
derniss einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind
es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand-
punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, dass sie
nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom
Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand
wenigstens das exupniso auton (V. 11.) gar zu bestimmt,
und wagte daher die Vermuthung, dass der Erzähler nach
dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge-

27) vgl. auch hierüber vorzüglich Flatt und Lücke.

Neuntes Kapitel. §. 96.
und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be-
wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er
sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie-
genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer
untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über-
zeugung, daſs er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe
gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren,
wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie
konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum
als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel-
len, wenn er sich bewuſst war, die Wiederbelebung des
Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben?
Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des
schon Begrabenen wird unsre Unkenntniſs der näheren Um-
stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben
bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften-
den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt,
welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft
strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den
niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten
Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die
Gewiſsheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün-
digt, unvereinbar bleiben muſs 27).

Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin-
derniſs einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind
es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand-
punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, daſs sie
nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom
Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand
wenigstens das ἐξυπνίσω αὐτὸν (V. 11.) gar zu bestimmt,
und wagte daher die Vermuthung, daſs der Erzähler nach
dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge-

27) vgl. auch hierüber vorzüglich Flatt und Lücke.
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[151/0170] Neuntes Kapitel. §. 96. und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be- wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie- genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über- zeugung, daſs er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren, wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel- len, wenn er sich bewuſst war, die Wiederbelebung des Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben? Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des schon Begrabenen wird unsre Unkenntniſs der näheren Um- stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften- den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt, welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die Gewiſsheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün- digt, unvereinbar bleiben muſs 27). Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin- derniſs einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand- punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, daſs sie nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand wenigstens das ἐξυπνίσω αὐτὸν (V. 11.) gar zu bestimmt, und wagte daher die Vermuthung, daſs der Erzähler nach dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge- 27) vgl. auch hierüber vorzüglich Flatt und Lücke.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/170>, abgerufen am 27.04.2024.