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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen,
wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht
pros thanaton, sondern uper tes doxes tou theou, k. t. l.
Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To-
de, unabweisbar, dass die doxa tou theou die Verherrlichung
Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt
war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, --
eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten
Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine hö-
here Gewissheit zu haben, dass sie in Erfüllung gehen wer-
de 26). Dass er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch
ehe er dem Todten das deuro exo! zugerufen, bereits dem
Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, diess wird vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be-
weis dafür angeführt, dass er den Lazarus nicht durch je-
nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein-
blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben
müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des
johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten.
Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch:
edoxasthe o uios t. a., das erst noch Bevorstehende und nur
erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie
passend war es namentlich hier, die Gewissheit der Erhö-
rung dadurch hervorzuheben, dass sie als bereits gesche-
hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es
nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den
Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er
wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg-
nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt
der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muss Je-
sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei-
nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra-
gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er

26) Flatt, S. 97 f.

Zweiter Abschnitt.
Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen,
wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht
πρὸς ϑάνατον, sondern ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ, κ. τ. λ.
Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To-
de, unabweisbar, daſs die δόξα τοῦ ϑεοῦ die Verherrlichung
Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt
war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, —
eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten
Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine hö-
here Gewiſsheit zu haben, daſs sie in Erfüllung gehen wer-
de 26). Daſs er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch
ehe er dem Todten das δεῦρο ἔξω! zugerufen, bereits dem
Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, dieſs wird vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be-
weis dafür angeführt, daſs er den Lazarus nicht durch je-
nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein-
blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben
müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des
johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten.
Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch:
ἐδοξάσϑη ὁ υἱὸς τ. ἀ., das erst noch Bevorstehende und nur
erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie
passend war es namentlich hier, die Gewiſsheit der Erhö-
rung dadurch hervorzuheben, daſs sie als bereits gesche-
hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es
nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den
Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er
wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg-
nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt
der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muſs Je-
sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei-
nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra-
gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er

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[150/0169] Zweiter Abschnitt. Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen, wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht πρὸς ϑάνατον, sondern ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ, κ. τ. λ. Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To- de, unabweisbar, daſs die δόξα τοῦ ϑεοῦ die Verherrlichung Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, — eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine hö- here Gewiſsheit zu haben, daſs sie in Erfüllung gehen wer- de 26). Daſs er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch ehe er dem Todten das δεῦρο ἔξω! zugerufen, bereits dem Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, dieſs wird vom Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be- weis dafür angeführt, daſs er den Lazarus nicht durch je- nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein- blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten. Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch: ἐδοξάσϑη ὁ υἱὸς τ. ἀ., das erst noch Bevorstehende und nur erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie passend war es namentlich hier, die Gewiſsheit der Erhö- rung dadurch hervorzuheben, daſs sie als bereits gesche- hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg- nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muſs Je- sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei- nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra- gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er 26) Flatt, S. 97 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/169>, abgerufen am 27.04.2024.