Stelle nicht mehr sagen lässt als sie sagt, die beiden an- dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten angetastet zu werden brauchen!
Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn- optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc. 13, 1 ff.), wobei die Erzähler, wie man glauben muss, zu erkennen gaben, dass sie jene Unglücksfälle für göttliche Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen, erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men- schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be- kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus gegen diese sprechen, so musste er entweder sagen: ihr seid ebenso grosse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet ihr, dass jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge- gangen seien? nein! diess sieht man an euch, die ihr un- erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: dass jene Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be- weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das, dass ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid, für eure grössere Würdigkeit beweist; vielmehr werden früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge- richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden -- wodurch also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und Unglück jedes Einzelnen bestätigt, nicht umgestossen wür- de. Diese vulgär-hebräische Ansicht von Krankheit und
Neuntes Kapitel. §. 92.
Stelle nicht mehr sagen läſst als sie sagt, die beiden an- dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten angetastet zu werden brauchen!
Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn- optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc. 13, 1 ff.), wobei die Erzähler, wie man glauben muſs, zu erkennen gaben, daſs sie jene Unglücksfälle für göttliche Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen, erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men- schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be- kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus gegen diese sprechen, so muſste er entweder sagen: ihr seid ebenso groſse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet ihr, daſs jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge- gangen seien? nein! dieſs sieht man an euch, die ihr un- erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: daſs jene Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be- weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das, daſs ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid, für eure gröſsere Würdigkeit beweist; vielmehr werden früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge- richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden — wodurch also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und Unglück jedes Einzelnen bestätigt, nicht umgestoſsen wür- de. Diese vulgär-hebräische Ansicht von Krankheit und
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Neuntes Kapitel. §. 92.
Stelle nicht mehr sagen läſst als sie sagt, die beiden an-
dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten
angetastet zu werden brauchen!
Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn-
optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die
bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich
einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm
Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche
durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc.
13, 1 ff.), wobei die Erzähler, wie man glauben muſs, zu
erkennen gaben, daſs sie jene Unglücksfälle für göttliche
Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen,
erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men-
schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien
um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be-
kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der
That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine
Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus
gegen diese sprechen, so muſste er entweder sagen: ihr
seid ebenso groſse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die
gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet
ihr, daſs jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge-
gangen seien? nein! dieſs sieht man an euch, die ihr un-
erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde
gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas
lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: daſs jene
Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be-
weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das,
daſs ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid,
für eure gröſsere Würdigkeit beweist; vielmehr werden
früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge-
richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden — wodurch
also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/106>, abgerufen am 23.11.2024.
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