Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro- chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan- gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem, ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den religiösen Sinn und die keineswegs unpoetische Natur des jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei- se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun- gen seien viel zu vortrefflich, als dass sie erdichtet sein könnten, durch die Bemerkung, dass sie nur eine Vertraut- heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus- setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we- nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar- auf dringen, dass man die orientalische Phantasie und Be- geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta- lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög- lichkeit behaupten, dass von einem religiösen Palästinen- ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym- bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan- gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können. Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be- trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au- gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön- nen? Nur muss man sich nach Usteri die Entstehung sol- cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-
30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull- mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes Heft, 781 ff.
Einleitung. §. 12.
Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro- chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan- gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem, ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei- se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun- gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut- heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus- setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we- nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar- auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be- geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta- lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög- lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen- ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym- bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan- gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können. Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be- trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au- gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön- nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol- cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-
30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull- mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes Heft, 781 ff.
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Einleitung. §. 12.
Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat
noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische
Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro-
chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit
zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan-
gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem,
ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den
religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des
jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu
dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei-
se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun-
gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein
könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut-
heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus-
setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we-
nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der
angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar-
auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be-
geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta-
lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög-
lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen-
ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym-
bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan-
gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können.
Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be-
trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au-
gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön-
nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol-
cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu
seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-
30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull-
mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes
Heft, 781 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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