Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung. §. 12.

Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat
noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische
Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro-
chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit
zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan-
gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem,
ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den
religiösen Sinn und die keineswegs unpoetische Natur des
jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu
dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei-
se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun-
gen seien viel zu vortrefflich, als dass sie erdichtet sein
könnten, durch die Bemerkung, dass sie nur eine Vertraut-
heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus-
setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we-
nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der
angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar-
auf dringen, dass man die orientalische Phantasie und Be-
geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta-
lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög-
lichkeit behaupten, dass von einem religiösen Palästinen-
ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym-
bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan-
gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können.
Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be-
trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au-
gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön-
nen? Nur muss man sich nach Usteri die Entstehung sol-
cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu
seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-

30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull-
mann
's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes
Heft, 781 ff.
Einleitung. §. 12.

Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat
noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische
Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro-
chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit
zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan-
gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem,
ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den
religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des
jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu
dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei-
se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun-
gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein
könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut-
heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus-
setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we-
nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der
angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar-
auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be-
geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta-
lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög-
lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen-
ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym-
bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan-
gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können.
Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be-
trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au-
gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön-
nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol-
cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu
seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-

30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull-
mann
's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes
Heft, 781 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0093" n="69"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 12.</fw><lb/>
          <p>Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat<lb/>
noch am Ende seiner Laufbahn <hi rendition="#k">Usteri</hi> für die mythische<lb/>
Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro-<lb/>
chen <note place="foot" n="30)">Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in <hi rendition="#k">Ull-<lb/>
mann</hi>'s und <hi rendition="#k">Umbreit</hi>'s theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes<lb/>
Heft, 781 ff.</note>. Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit<lb/>
zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan-<lb/>
gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem,<lb/>
ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den<lb/>
religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des<lb/>
jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu<lb/>
dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei-<lb/>
se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun-<lb/>
gen seien viel zu vortrefflich, als da&#x017F;s sie erdichtet sein<lb/>
könnten, durch die Bemerkung, da&#x017F;s sie nur eine Vertraut-<lb/>
heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus-<lb/>
setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we-<lb/>
nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der<lb/>
angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar-<lb/>
auf dringen, da&#x017F;s man die orientalische Phantasie und Be-<lb/>
geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta-<lb/>
lischen Sinne verwechsle (Dr. <hi rendition="#k">Paulus</hi>), nicht die Unmög-<lb/>
lichkeit behaupten, da&#x017F;s von einem religiösen Palästinen-<lb/>
ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym-<lb/>
bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan-<lb/>
gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können.<lb/>
Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be-<lb/>
trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au-<lb/>
gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön-<lb/>
nen? Nur mu&#x017F;s man sich nach <hi rendition="#k">Usteri</hi> die Entstehung sol-<lb/>
cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu<lb/>
seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0093] Einleitung. §. 12. Ein besonders kräftiges und erfreuliches Wort hat noch am Ende seiner Laufbahn Usteri für die mythische Auffassung mancher N. T.lichen Erzählungen ausgespro- chen 30). Wie er diejenigen bekämpft, welche die Zeit zwischen den Begebenheiten und der Abfassung der Evan- gelien für zu kurz halten zur Ausbildung von Mythischem, ist theils oben angegeben, theils macht er noch auf den religiösen Sinn und die keineswegs unpoëtische Natur des jüdischen Volkes, als auf die günstigste Disposition zu dergleichen Produktionen, aufmerksam; auf ähnliche Wei- se begegnet er dem Einwand, die evangelischen Erzählun- gen seien viel zu vortrefflich, als daſs sie erdichtet sein könnten, durch die Bemerkung, daſs sie nur eine Vertraut- heit mit dem A. T. nebst einigem plastischen Sinne voraus- setzen, den man den ersten geistbegabten Christen am we- nigsten Grund habe, abzusprechen. Namentlich, meint der angeführte Theologe, sollten diejenigen, welche stets dar- auf dringen, daſs man die orientalische Phantasie und Be- geisterung doch ja nicht mit dem scholastischen occidenta- lischen Sinne verwechsle (Dr. Paulus), nicht die Unmög- lichkeit behaupten, daſs von einem religiösen Palästinen- ser, zumal auf Veranlassung einer Tradition, solche sym- bolisch-dogmatische Scenen, wie die vorausgesetzten evan- gelischen Mythen sind, haben erdichtet werden können. Sollte es denn, fragt er, ausser abgeschmackten und be- trügerischen Fiktionen und historischen Relationen von Au- gen- und Ohrenzeugen nicht noch ein Drittes geben kön- nen? Nur muſs man sich nach Usteri die Entstehung sol- cher Erzählungen nicht so denken, es habe sich Einer zu seinem Tisch gesetzt und aus seinem eignen Kopfe der- 30) Beitrag zur Erklärung der Versuchungsgeschichte, in Ull- mann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, 1832, 4tes Heft, 781 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/93
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/93>, abgerufen am 28.04.2024.