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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 12.
sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als-
bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver-
wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de-
ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi-
schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun-
gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche,
aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch-
bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge-
lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk-
bar es sei, dass sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu-
gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von
solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die
Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher
entwickeln, um zu sehen, dass sie die Entstehung von Sa-
gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu-
gegeben, dass sich diese Sagen alle in Palästina gebildet
haben: wer sagt uns denn, dass dies gerade an denjeni-
gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten
sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale
bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so
müsste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol-
len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer-
den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori-
sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu
deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen-
zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht
ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder
andere Mal gesehen hatten, mussten wohl sehr geneigt
sein, die Lücken ihrer Kenntniss von seinem Lebensgang
durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Dass endlich
zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von
Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge-
kommen, und dass namentlich eines von unsern Evange-
lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor-
den sei, wird niemals bewiesen werden können.

Einleitung. §. 12.
sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als-
bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver-
wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de-
ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi-
schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun-
gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche,
aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch-
bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge-
lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk-
bar es sei, daſs sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu-
gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von
solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die
Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher
entwickeln, um zu sehen, daſs sie die Entstehung von Sa-
gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu-
gegeben, daſs sich diese Sagen alle in Palästina gebildet
haben: wer sagt uns denn, daſs dies gerade an denjeni-
gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten
sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale
bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so
müſste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol-
len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer-
den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori-
sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu
deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen-
zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht
ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder
andere Mal gesehen hatten, muſsten wohl sehr geneigt
sein, die Lücken ihrer Kenntniſs von seinem Lebensgang
durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Daſs endlich
zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von
Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge-
kommen, und daſs namentlich eines von unsern Evange-
lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor-
den sei, wird niemals bewiesen werden können.

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[68/0092] Einleitung. §. 12. sinn auch die angeführten Herodotischen Wunder sich als- bald in natürliche aber treu berichtete Begebenheiten ver- wandeln werden, wie er ja manche profane Mythen, de- ren man sich als Analogieen zur Unterstützung der mythi- schen Ansicht von gewissen neutestamentlichen Erzählun- gen zu bedienen pflegt, durch Umdeutung in wirkliche, aber natürliche Vorfälle zu jener Beweisführung unbrauch- bar zu machen gesucht hat. Wenn aber der genannte Ge- lehrte darauf noch besonderes Gewicht legt, wie undenk- bar es sei, daſs sich in Palästina selbst, wo die Augenzeu- gen noch lebten, Sagen über Jesum und Sammlungen von solchen gebildet haben: so darf man sich hier nur die Vorstellungen von Palästina und von Augenzeugen näher entwickeln, um zu sehen, daſs sie die Entstehung von Sa- gen in so früher Zeit keineswegs undenkbar machen. Zu- gegeben, daſs sich diese Sagen alle in Palästina gebildet haben: wer sagt uns denn, daſs dies gerade an denjeni- gen Orten geschehen sein müsse, wo Jesus am längsten sich aufgehalten hatte, wo also seine wahren Schicksale bekannt waren? Was aber die Augenzeugen betrifft, so müſste, sofern die Apostel darunter verstanden sein sol- len, diesen eine wahre Allgegenwart zugeschrieben wer- den, wenn sie an allen Orten und Enden, wo unhistori- sche Sagen über Jesum aufkeimten und fortwucherten, zu deren Ausjätung sollten zugegen gewesen sein; Augen- zeugen im weiteren Sinne dagegen, welche Jesum nicht ununterbrochen begleitet, sondern ihn nur das eine oder andere Mal gesehen hatten, muſsten wohl sehr geneigt sein, die Lücken ihrer Kenntniſs von seinem Lebensgang durch mythische Vorstellungen auszufüllen. Daſs endlich zu Lebzeiten der Apostel auch schon Sammlungen von Sagen über das Leben Jesu in allgemeinen Umlauf ge- kommen, und daſs namentlich eines von unsern Evange- lien einem Apostel bekannt und von ihm anerkannt wor- den sei, wird niemals bewiesen werden können.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/92>, abgerufen am 28.04.2024.