was der ganzen Scene eine andre Farbe giebt. Endlich wissen die beiden Synoptiker auch davon nichts, dass eben Judas es gewesen sei, welcher den Tadel gegen die Frau aussprach, sondern Matthäus legt ihn den Jüngern, Markus den Anwesenden überhaupt in den Mund 6).
So ist also zwischen der Erzählung des Johannes und der des Matthäus und Markus ein kaum geringerer Unter- schied, als zwischen dem Berichte dieser drei zusam- men und dem des Lukas: wer hier zwei verschiedene Be- gebenheiten voraussezt, ist nur dann consequent, wenn er diess auch dort thut, und so mit Origenes einstweilen drei verschiedene Salbungen statuirt. Dennoch aber, so- bald man sich diese Consequenz näher ansieht, muss man über dieselbe bedenklich werden. Denn wie unwahrschein- lich ist es doch, dass Jesus dreimal, jedesmal bei einem Gastessen, allemal von einer Frau, aber jedesmal wieder von einer andern, kostbar gesalbt worden sein, und dass es sich hiebei jedesmal gefügt haben sollte, dass Jesus diese Handlung der Frau gegen Angriffe der Zuschauer zu vertheidigen hatte? 7) Wie lässt sich namentlich das denken, dass, wenn Jesus bei einem, und selbst bei zwei früheren Anlässen die ihm erwiesene Ehre der Sal- bung so entschieden in Schutz genommen hatte, die Jün- ger oder einer derselben sie doch immer wieder sollten getadelt haben? 8).
Muss man sich hiedurch getrieben finden, auf Re- duktionen bedacht zu sein: so wird es allerdings immer am nächsten liegen, mit den Erzählungen der beiden er- sten Synoptiker und der des Johannes den Anfang zu machen, denn sie haben nicht allein den Ort der Hand- lung, Bethanien, gemein, sondern auch im Allgemeinen
6) Ders. ebend.
7) vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 111.
8) Origenes und Schleiermacher a. a. O.
Zweiter Abschnitt.
was der ganzen Scene eine andre Farbe giebt. Endlich wissen die beiden Synoptiker auch davon nichts, daſs eben Judas es gewesen sei, welcher den Tadel gegen die Frau aussprach, sondern Matthäus legt ihn den Jüngern, Markus den Anwesenden überhaupt in den Mund 6).
So ist also zwischen der Erzählung des Johannes und der des Matthäus und Markus ein kaum geringerer Unter- schied, als zwischen dem Berichte dieser drei zusam- men und dem des Lukas: wer hier zwei verschiedene Be- gebenheiten voraussezt, ist nur dann consequent, wenn er dieſs auch dort thut, und so mit Origenes einstweilen drei verschiedene Salbungen statuirt. Dennoch aber, so- bald man sich diese Consequenz näher ansieht, muſs man über dieselbe bedenklich werden. Denn wie unwahrschein- lich ist es doch, daſs Jesus dreimal, jedesmal bei einem Gastessen, allemal von einer Frau, aber jedesmal wieder von einer andern, kostbar gesalbt worden sein, und daſs es sich hiebei jedesmal gefügt haben sollte, daſs Jesus diese Handlung der Frau gegen Angriffe der Zuschauer zu vertheidigen hatte? 7) Wie läſst sich namentlich das denken, daſs, wenn Jesus bei einem, und selbst bei zwei früheren Anlässen die ihm erwiesene Ehre der Sal- bung so entschieden in Schutz genommen hatte, die Jün- ger oder einer derselben sie doch immer wieder sollten getadelt haben? 8).
Muſs man sich hiedurch getrieben finden, auf Re- duktionen bedacht zu sein: so wird es allerdings immer am nächsten liegen, mit den Erzählungen der beiden er- sten Synoptiker und der des Johannes den Anfang zu machen, denn sie haben nicht allein den Ort der Hand- lung, Bethanien, gemein, sondern auch im Allgemeinen
6) Ders. ebend.
7) vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 111.
8) Origenes und Schleiermacher a. a. O.
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Zweiter Abschnitt.
was der ganzen Scene eine andre Farbe giebt. Endlich
wissen die beiden Synoptiker auch davon nichts, daſs
eben Judas es gewesen sei, welcher den Tadel gegen die
Frau aussprach, sondern Matthäus legt ihn den Jüngern,
Markus den Anwesenden überhaupt in den Mund 6).
So ist also zwischen der Erzählung des Johannes und
der des Matthäus und Markus ein kaum geringerer Unter-
schied, als zwischen dem Berichte dieser drei zusam-
men und dem des Lukas: wer hier zwei verschiedene Be-
gebenheiten voraussezt, ist nur dann consequent, wenn
er dieſs auch dort thut, und so mit Origenes einstweilen
drei verschiedene Salbungen statuirt. Dennoch aber, so-
bald man sich diese Consequenz näher ansieht, muſs man
über dieselbe bedenklich werden. Denn wie unwahrschein-
lich ist es doch, daſs Jesus dreimal, jedesmal bei einem
Gastessen, allemal von einer Frau, aber jedesmal wieder
von einer andern, kostbar gesalbt worden sein, und daſs
es sich hiebei jedesmal gefügt haben sollte, daſs Jesus
diese Handlung der Frau gegen Angriffe der Zuschauer
zu vertheidigen hatte? 7) Wie läſst sich namentlich das
denken, daſs, wenn Jesus bei einem, und selbst bei
zwei früheren Anlässen die ihm erwiesene Ehre der Sal-
bung so entschieden in Schutz genommen hatte, die Jün-
ger oder einer derselben sie doch immer wieder sollten
getadelt haben? 8).
Muſs man sich hiedurch getrieben finden, auf Re-
duktionen bedacht zu sein: so wird es allerdings immer
am nächsten liegen, mit den Erzählungen der beiden er-
sten Synoptiker und der des Johannes den Anfang zu
machen, denn sie haben nicht allein den Ort der Hand-
lung, Bethanien, gemein, sondern auch im Allgemeinen
6) Ders. ebend.
7) vgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 111.
8) Origenes und Schleiermacher a. a. O.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/736>, abgerufen am 25.11.2024.
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