ger die Rede Jesu nicht verstanden, und doch, Jesum dar- über zu fragen, sich gefürchtet (also ohne Zweifel über den Sinn der Rede unter sich gesprochen und gestritten) haben, und hier schloss sich nun sehr natürlich der gleich- falls hinter Jesu Rücken geführte Streit über den Vorrang an. Auf die Erzählung des Matthäus übrigens findet die- se Erklärung ihre Anwendung nicht ebenso, da bei ihm zwischen die Leidensverkündigung und den Wetteifer die Anekdote von dem erangelten Stater eingeschoben ist.
Mit diesen Rangstreitigkeiten hängt durch Vermitte- lung des bei einer derselben aufgestellten Kindes noch ei- ne andre Anekdote zusammen, die nämlich, wie die Leu- te Kinder zu Jesu bringen, um sie von ihm segnen zu lassen, die Jünger es hindern wollen, Jesus aber das freund- liche aphete ta paidia k. t. l. spricht und bemerkt, dass nur Kindern und ihresgleichen das Himmelreich beschie- den sei (Matth. 19, 13 ff. Marc. 10, 13 ff. Luc. 18, 15 ff.). Diese Erzählung hat mit der von dem inmitten der Jünger aufgestellten Kinder viele Ähnlichkeit. 1) Beidemale stellt Jesus die Kinder als Muster vor und erklärt, dass nur Kinderähnliche in das Reich Gottes kommen können; 2) bei- demale erscheinen die Jünger in einem Gegensaz gegen die Kinder, und endlich 3) sagt Markus beidemale, Jesus ha- be die Kinder in die Arme genommen (enagkalisameno[s]). Wollte man desshalb nur Einen Vorfall als zum Grunde liegend vermuthen, so müsste jedenfalls die leztere Erzäh- lung als die der Wahrheit nähere festgehalten werden, weil das Wort Jesu: aphete ta paidia k. t. l., welches in seiner durch alle drei Berichte hindurch sich gleich bleibenden Originalität den Stempel der Ächtheit unverkennbar an sich trägt, nicht wohl bei jener andern Gelegenheit gespro- chen werden konnte, wogegen die angeblich aus Anlass des Rangstreits gethanen Aussprüche von den Kindern als De- muthsmustern gar wohl bei der unsrigen im Rückblick auf frühere Rangstreitigkeiten vorgetragen sein könnten.
Achtes Kapitel. §. 83.
ger die Rede Jesu nicht verstanden, und doch, Jesum dar- über zu fragen, sich gefürchtet (also ohne Zweifel über den Sinn der Rede unter sich gesprochen und gestritten) haben, und hier schloſs sich nun sehr natürlich der gleich- falls hinter Jesu Rücken geführte Streit über den Vorrang an. Auf die Erzählung des Matthäus übrigens findet die- se Erklärung ihre Anwendung nicht ebenso, da bei ihm zwischen die Leidensverkündigung und den Wetteifer die Anekdote von dem erangelten Stater eingeschoben ist.
Mit diesen Rangstreitigkeiten hängt durch Vermitte- lung des bei einer derselben aufgestellten Kindes noch ei- ne andre Anekdote zusammen, die nämlich, wie die Leu- te Kinder zu Jesu bringen, um sie von ihm segnen zu lassen, die Jünger es hindern wollen, Jesus aber das freund- liche ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ. spricht und bemerkt, daſs nur Kindern und ihresgleichen das Himmelreich beschie- den sei (Matth. 19, 13 ff. Marc. 10, 13 ff. Luc. 18, 15 ff.). Diese Erzählung hat mit der von dem inmitten der Jünger aufgestellten Kinder viele Ähnlichkeit. 1) Beidemale stellt Jesus die Kinder als Muster vor und erklärt, daſs nur Kinderähnliche in das Reich Gottes kommen können; 2) bei- demale erscheinen die Jünger in einem Gegensaz gegen die Kinder, und endlich 3) sagt Markus beidemale, Jesus ha- be die Kinder in die Arme genommen (ἐναγκαλισάμενο[ς]). Wollte man deſshalb nur Einen Vorfall als zum Grunde liegend vermuthen, so müſste jedenfalls die leztere Erzäh- lung als die der Wahrheit nähere festgehalten werden, weil das Wort Jesu: ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ., welches in seiner durch alle drei Berichte hindurch sich gleich bleibenden Originalität den Stempel der Ächtheit unverkennbar an sich trägt, nicht wohl bei jener andern Gelegenheit gespro- chen werden konnte, wogegen die angeblich aus Anlaſs des Rangstreits gethanen Aussprüche von den Kindern als De- muthsmustern gar wohl bei der unsrigen im Rückblick auf frühere Rangstreitigkeiten vorgetragen sein könnten.
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Achtes Kapitel. §. 83.
ger die Rede Jesu nicht verstanden, und doch, Jesum dar-
über zu fragen, sich gefürchtet (also ohne Zweifel über
den Sinn der Rede unter sich gesprochen und gestritten)
haben, und hier schloſs sich nun sehr natürlich der gleich-
falls hinter Jesu Rücken geführte Streit über den Vorrang
an. Auf die Erzählung des Matthäus übrigens findet die-
se Erklärung ihre Anwendung nicht ebenso, da bei ihm
zwischen die Leidensverkündigung und den Wetteifer die
Anekdote von dem erangelten Stater eingeschoben ist.
Mit diesen Rangstreitigkeiten hängt durch Vermitte-
lung des bei einer derselben aufgestellten Kindes noch ei-
ne andre Anekdote zusammen, die nämlich, wie die Leu-
te Kinder zu Jesu bringen, um sie von ihm segnen zu
lassen, die Jünger es hindern wollen, Jesus aber das freund-
liche ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ. spricht und bemerkt, daſs
nur Kindern und ihresgleichen das Himmelreich beschie-
den sei (Matth. 19, 13 ff. Marc. 10, 13 ff. Luc. 18, 15 ff.).
Diese Erzählung hat mit der von dem inmitten der Jünger
aufgestellten Kinder viele Ähnlichkeit. 1) Beidemale stellt
Jesus die Kinder als Muster vor und erklärt, daſs nur
Kinderähnliche in das Reich Gottes kommen können; 2) bei-
demale erscheinen die Jünger in einem Gegensaz gegen die
Kinder, und endlich 3) sagt Markus beidemale, Jesus ha-
be die Kinder in die Arme genommen (ἐναγκαλισάμενος).
Wollte man deſshalb nur Einen Vorfall als zum Grunde
liegend vermuthen, so müſste jedenfalls die leztere Erzäh-
lung als die der Wahrheit nähere festgehalten werden, weil
das Wort Jesu: ἄφετε τὰ παιδία κ. τ. λ., welches in seiner
durch alle drei Berichte hindurch sich gleich bleibenden
Originalität den Stempel der Ächtheit unverkennbar an
sich trägt, nicht wohl bei jener andern Gelegenheit gespro-
chen werden konnte, wogegen die angeblich aus Anlaſs des
Rangstreits gethanen Aussprüche von den Kindern als De-
muthsmustern gar wohl bei der unsrigen im Rückblick
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/725>, abgerufen am 26.11.2024.
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