wesentliche Inhalt der Lehre des Prologs ist in den fol- genden Reden Jesu enthalten, der Form derselben aber als Logologie war sich der Verfasser zu bestimmt als ei- ner Jesu fremden bewusst.
Bleibt es somit dabei, dass wir an den johanneischen Reden Jesu im Ganzen freie Compositionen des Evangeli- sten haben, ist aber oben zugegeben worden, dass er manches Diktum Jesu aus der ächten Überlieferung ge- schöpft habe: so möchten wir das Leztere doch nicht weit über diejenigen Stellen hinaus ausdehnen, bei welchen es sich durch synoptische Parallelen wahrscheinlich ma- chen lässt. Wie nämlich im Gedächtniss behaltene Reden eines Andern sich in der Aufzeichnung gestalten, sehen wir an den drei ersten Evangelien: indem sie aus ihrem ur- sprünglichen Zusammenhang kommen, und in immer klei- nere Stücke zersplittern, verlieren diese doch ihre Gedie- genheit und Härte nicht, und geben, wenn sie wieder ge- sammelt werden, den Anblick einer Mosaikarbeit, in wel- cher der Zusammenhang der Theile ein bloss äusserer, und jeder eigentliche Übergang ein Sprung ist. Die Reden Jesu im vierten Evangelium bieten gerade die umgekehrte Erscheinung dar. Die milden, nur wegen der Tiefe des Sinnes, in welcher sie liegen, bisweilen dunkeln Über- gänge, wo sich ein Gedanke aus dem andern heraus- spinnt, und der folgende Saz so häufig nur eine erläu- ternde Umbildung des vorhergehenden ist 26), verrathen eine weiche, widerstandlose Masse, wie niemals die über-
26) Treffender kann man diese Eigenthümlichkeit der johannei- schen Reden nicht bezeichnen, als Erasmus in der seiner Pa- raphrase vorausgeschickten epist. ad Ferdinandum: habet Joannes suum quoddam dicendi genus, ita sermonem velut ansulis ex sese cohaerentibus contexens, nonnunquam ex con- trariis, nonnunquam ex similibus, nonnunquam ex iisdem subinde repetitis, -- -- ut orationis quodque membrum sem- per excipiat prius, sic ut prioris finis sit initium sequentis etc.
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Siebentes Kapitel. §. 79.
wesentliche Inhalt der Lehre des Prologs ist in den fol- genden Reden Jesu enthalten, der Form derselben aber als Logologie war sich der Verfasser zu bestimmt als ei- ner Jesu fremden bewuſst.
Bleibt es somit dabei, daſs wir an den johanneischen Reden Jesu im Ganzen freie Compositionen des Evangeli- sten haben, ist aber oben zugegeben worden, daſs er manches Diktum Jesu aus der ächten Überlieferung ge- schöpft habe: so möchten wir das Leztere doch nicht weit über diejenigen Stellen hinaus ausdehnen, bei welchen es sich durch synoptische Parallelen wahrscheinlich ma- chen läſst. Wie nämlich im Gedächtniſs behaltene Reden eines Andern sich in der Aufzeichnung gestalten, sehen wir an den drei ersten Evangelien: indem sie aus ihrem ur- sprünglichen Zusammenhang kommen, und in immer klei- nere Stücke zersplittern, verlieren diese doch ihre Gedie- genheit und Härte nicht, und geben, wenn sie wieder ge- sammelt werden, den Anblick einer Mosaikarbeit, in wel- cher der Zusammenhang der Theile ein bloſs äusserer, und jeder eigentliche Übergang ein Sprung ist. Die Reden Jesu im vierten Evangelium bieten gerade die umgekehrte Erscheinung dar. Die milden, nur wegen der Tiefe des Sinnes, in welcher sie liegen, bisweilen dunkeln Über- gänge, wo sich ein Gedanke aus dem andern heraus- spinnt, und der folgende Saz so häufig nur eine erläu- ternde Umbildung des vorhergehenden ist 26), verrathen eine weiche, widerstandlose Masse, wie niemals die über-
26) Treffender kann man diese Eigenthümlichkeit der johannei- schen Reden nicht bezeichnen, als Erasmus in der seiner Pa- raphrase vorausgeschickten epist. ad Ferdinandum: habet Joannes suum quoddam dicendi genus, ita sermonem velut ansulis ex sese cohaerentibus contexens, nonnunquam ex con- trariis, nonnunquam ex similibus, nonnunquam ex iisdem subinde repetitis, — — ut orationis quodque membrum sem- per excipiat prius, sic ut prioris finis sit initium sequentis etc.
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Siebentes Kapitel. §. 79.
wesentliche Inhalt der Lehre des Prologs ist in den fol-
genden Reden Jesu enthalten, der Form derselben aber
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Bleibt es somit dabei, daſs wir an den johanneischen
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Jesu im vierten Evangelium bieten gerade die umgekehrte
Erscheinung dar. Die milden, nur wegen der Tiefe des
Sinnes, in welcher sie liegen, bisweilen dunkeln Über-
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eine weiche, widerstandlose Masse, wie niemals die über-
26) Treffender kann man diese Eigenthümlichkeit der johannei-
schen Reden nicht bezeichnen, als Erasmus in der seiner Pa-
raphrase vorausgeschickten epist. ad Ferdinandum: habet
Joannes suum quoddam dicendi genus, ita sermonem velut
ansulis ex sese cohaerentibus contexens, nonnunquam ex con-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/699>, abgerufen am 22.11.2024.
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