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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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was uns von demselben bekannt ist, aus dem vierten Evan-
gelium erfahren müssen, da doch das eigenthümliche Ver-
hältniss, in welchem Nikodemus zu Jesu gestanden, und
dass auch er an seiner Bestattung Theil genommen, dem
Matthäus ebensogut als dem Johannes habe bekannt sein
müssen. Diess wird sofort in den Kreis jener Gründe ge-
zogen, welche beweisen sollen, dass das erste Evangelium
nicht vom Apostel Matthäus verfasst, sondern aus ziemlich
später Tradition entstanden sei 1). Allein auch an der ge-
meinen urchristlichen Sage, aus welcher die Synoptiker
schöpften, muss es auffallen, dass sie von diesem Nikode-
mus nichts weiss. Hat sie doch die Namen aller übri-
gen, welche dem gemordeten Meister die lezte Ehre er-
weisen halfen, eines Joseph von Arimathäa und der beiden
Marien, mit rührender Pietät in ihre Gedenkbücher einge-
zeichnet (Matth. 27, 57--61. parall.): warum sollte ihr in
sämmtlichen uns aufbehaltenen Denkmalen gerade dieser
Nikodemus entgangen sein, welcher unter den Theilneh-
mern an der Bestattung Jesu durch jenen nächtlichen Be-
such bei ihm und die Fürsprache für ihn besonders ausge-
zeichnet war? Dass, wenn der Mann sich in der That so
hervorgethan, sein Name dennoch aus der vulgären evan-
gelischen Überlieferung habe verschwinden können, diess
ist so schwer sich begreiflich zu machen, dass man sich ge-
nöthigt findet, zu versuchen, ob nicht das Umgekehrte er-
klärlicher ist, wie nämlich, ohne dass er wirklich in einem
solchen Verhältniss zu Jesu stand, die Sage davon sich den-
noch bilden, und vom Verfasser des vierten Evangeliums
aufgenommen werden konnte.

Joh. 12, 42. wird ausdrücklich hervorgehoben, dass
auch e[k] ton arkhonton polloi an Jesum geglaubt haben, nur
haben sie aus Furcht vor dem pharisäischen Bann es nicht
wollen laut werden lassen, indem sie fälschlich die doxa

1) Schulz, über das Abendmahl, S. 321.

Zweiter Abschnitt.
was uns von demselben bekannt ist, aus dem vierten Evan-
gelium erfahren müssen, da doch das eigenthümliche Ver-
hältniſs, in welchem Nikodemus zu Jesu gestanden, und
daſs auch er an seiner Bestattung Theil genommen, dem
Matthäus ebensogut als dem Johannes habe bekannt sein
müssen. Dieſs wird sofort in den Kreis jener Gründe ge-
zogen, welche beweisen sollen, daſs das erste Evangelium
nicht vom Apostel Matthäus verfaſst, sondern aus ziemlich
später Tradition entstanden sei 1). Allein auch an der ge-
meinen urchristlichen Sage, aus welcher die Synoptiker
schöpften, muſs es auffallen, daſs sie von diesem Nikode-
mus nichts weiſs. Hat sie doch die Namen aller übri-
gen, welche dem gemordeten Meister die lezte Ehre er-
weisen halfen, eines Joseph von Arimathäa und der beiden
Marien, mit rührender Pietät in ihre Gedenkbücher einge-
zeichnet (Matth. 27, 57—61. parall.): warum sollte ihr in
sämmtlichen uns aufbehaltenen Denkmalen gerade dieser
Nikodemus entgangen sein, welcher unter den Theilneh-
mern an der Bestattung Jesu durch jenen nächtlichen Be-
such bei ihm und die Fürsprache für ihn besonders ausge-
zeichnet war? Daſs, wenn der Mann sich in der That so
hervorgethan, sein Name dennoch aus der vulgären evan-
gelischen Überlieferung habe verschwinden können, dieſs
ist so schwer sich begreiflich zu machen, daſs man sich ge-
nöthigt findet, zu versuchen, ob nicht das Umgekehrte er-
klärlicher ist, wie nämlich, ohne daſs er wirklich in einem
solchen Verhältniſs zu Jesu stand, die Sage davon sich den-
noch bilden, und vom Verfasser des vierten Evangeliums
aufgenommen werden konnte.

Joh. 12, 42. wird ausdrücklich hervorgehoben, daſs
auch ἐ[κ] τῶν ἀρχόντων πολλοὶ an Jesum geglaubt haben, nur
haben sie aus Furcht vor dem pharisäischen Bann es nicht
wollen laut werden lassen, indem sie fälschlich die δόξα

1) Schulz, über das Abendmahl, S. 321.
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[632/0656] Zweiter Abschnitt. was uns von demselben bekannt ist, aus dem vierten Evan- gelium erfahren müssen, da doch das eigenthümliche Ver- hältniſs, in welchem Nikodemus zu Jesu gestanden, und daſs auch er an seiner Bestattung Theil genommen, dem Matthäus ebensogut als dem Johannes habe bekannt sein müssen. Dieſs wird sofort in den Kreis jener Gründe ge- zogen, welche beweisen sollen, daſs das erste Evangelium nicht vom Apostel Matthäus verfaſst, sondern aus ziemlich später Tradition entstanden sei 1). Allein auch an der ge- meinen urchristlichen Sage, aus welcher die Synoptiker schöpften, muſs es auffallen, daſs sie von diesem Nikode- mus nichts weiſs. Hat sie doch die Namen aller übri- gen, welche dem gemordeten Meister die lezte Ehre er- weisen halfen, eines Joseph von Arimathäa und der beiden Marien, mit rührender Pietät in ihre Gedenkbücher einge- zeichnet (Matth. 27, 57—61. parall.): warum sollte ihr in sämmtlichen uns aufbehaltenen Denkmalen gerade dieser Nikodemus entgangen sein, welcher unter den Theilneh- mern an der Bestattung Jesu durch jenen nächtlichen Be- such bei ihm und die Fürsprache für ihn besonders ausge- zeichnet war? Daſs, wenn der Mann sich in der That so hervorgethan, sein Name dennoch aus der vulgären evan- gelischen Überlieferung habe verschwinden können, dieſs ist so schwer sich begreiflich zu machen, daſs man sich ge- nöthigt findet, zu versuchen, ob nicht das Umgekehrte er- klärlicher ist, wie nämlich, ohne daſs er wirklich in einem solchen Verhältniſs zu Jesu stand, die Sage davon sich den- noch bilden, und vom Verfasser des vierten Evangeliums aufgenommen werden konnte. Joh. 12, 42. wird ausdrücklich hervorgehoben, daſs auch ἐκ τῶν ἀρχόντων πολλοὶ an Jesum geglaubt haben, nur haben sie aus Furcht vor dem pharisäischen Bann es nicht wollen laut werden lassen, indem sie fälschlich die δόξα 1) Schulz, über das Abendmahl, S. 321.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/656>, abgerufen am 18.05.2024.