Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Sechstes Kapitel. §. 72. ger ihn später, wie wenn nichts dergleichen vorhergegan-gen wäre, um ein solches angesprochen haben; in keinem Falle hätte wohl Jesus ohne alle Erinnerung, dass er ein solches ja längst gegeben, das früher mitgetheilte Muster wiederholt. Desswegen hat sich die neueste Kritik dahin entschieden, dass nur Lukas den natürlichen und wahren Anlass der Mittheilung dieses Gebetes aufbewahrt habe, woge- gen es in der Bergrede des Matthäus nur, wie so manche andre Redestücke, vom Referenten eingeschoben sei 27). Allein die Natürlichkeit, welche man an der Darstellung dieser Sache bei Lukas rühmt, kann ich nicht entdecken. Abgese- hen davon, was die bezeichneten Kritiker selbst unwahr- scheinlich finden, dass die Jünger Jesu bis zur lezten Reise, in welche Lukas die Scene versezt, ohne Anweisung zu beten gewesen sein sollten, fällt überhaupt schon das, dass Jesus mit einer solchen gewartet haben soll, bis die Jünger ihn darum ersuchten, und dass er dann auf ihr Begehren sich sogleich in ein Gebet geworfen haben soll, schwer zu glau- ben; sondern gewiss hat er von Anfang an oft in ihrem Kreise gebetet, dann aber war ihre Bitte überflüssig, und er musste sie, wenn sie doch baten, wie Joh. 14, 9. auf das verweisen, was sie in seinem Umgang längst haben se- hen und hören können. Die Darstellung bei Lukas scheint nach blosser Vermuthung gemacht, indem man zwar wusste, dass jenes Gebet von Jesu herrührte, auf die weitere Fra- ge aber, was ihn zur Mittheilung desselben bewogen ha- be, sich selbst die Antwort ertheilte, ohne Zweifel werden sie ihn um ein Mustergebet ersucht haben. Ohne daher behaupten zu wollen, dass Matthäus uns die Verbindung aufbewahrt habe, in welcher dieses Gebet ursprünglich von Jesu gesprochen ist, zweifeln wir doch ebensosehr, ob wir diese bei Lukas zu lesen bekommen. Was das 27) Schleiermacher, a. a. O. S. 173. Olshausen, S. 235. Sief-
fert, S. 78 ff. Sechstes Kapitel. §. 72. ger ihn später, wie wenn nichts dergleichen vorhergegan-gen wäre, um ein solches angesprochen haben; in keinem Falle hätte wohl Jesus ohne alle Erinnerung, daſs er ein solches ja längst gegeben, das früher mitgetheilte Muster wiederholt. Deſswegen hat sich die neueste Kritik dahin entschieden, daſs nur Lukas den natürlichen und wahren Anlaſs der Mittheilung dieses Gebetes aufbewahrt habe, woge- gen es in der Bergrede des Matthäus nur, wie so manche andre Redestücke, vom Referenten eingeschoben sei 27). Allein die Natürlichkeit, welche man an der Darstellung dieser Sache bei Lukas rühmt, kann ich nicht entdecken. Abgese- hen davon, was die bezeichneten Kritiker selbst unwahr- scheinlich finden, daſs die Jünger Jesu bis zur lezten Reise, in welche Lukas die Scene versezt, ohne Anweisung zu beten gewesen sein sollten, fällt überhaupt schon das, daſs Jesus mit einer solchen gewartet haben soll, bis die Jünger ihn darum ersuchten, und daſs er dann auf ihr Begehren sich sogleich in ein Gebet geworfen haben soll, schwer zu glau- ben; sondern gewiſs hat er von Anfang an oft in ihrem Kreise gebetet, dann aber war ihre Bitte überflüssig, und er muſste sie, wenn sie doch baten, wie Joh. 14, 9. auf das verweisen, was sie in seinem Umgang längst haben se- hen und hören können. Die Darstellung bei Lukas scheint nach bloſser Vermuthung gemacht, indem man zwar wuſste, daſs jenes Gebet von Jesu herrührte, auf die weitere Fra- ge aber, was ihn zur Mittheilung desselben bewogen ha- be, sich selbst die Antwort ertheilte, ohne Zweifel werden sie ihn um ein Mustergebet ersucht haben. Ohne daher behaupten zu wollen, daſs Matthäus uns die Verbindung aufbewahrt habe, in welcher dieses Gebet ursprünglich von Jesu gesprochen ist, zweifeln wir doch ebensosehr, ob wir diese bei Lukas zu lesen bekommen. Was das 27) Schleiermacher, a. a. O. S. 173. Olshausen, S. 235. Sief-
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Sechstes Kapitel. §. 72.
ger ihn später, wie wenn nichts dergleichen vorhergegan-
gen wäre, um ein solches angesprochen haben; in keinem
Falle hätte wohl Jesus ohne alle Erinnerung, daſs er ein
solches ja längst gegeben, das früher mitgetheilte Muster
wiederholt. Deſswegen hat sich die neueste Kritik dahin
entschieden, daſs nur Lukas den natürlichen und wahren
Anlaſs der Mittheilung dieses Gebetes aufbewahrt habe, woge-
gen es in der Bergrede des Matthäus nur, wie so manche andre
Redestücke, vom Referenten eingeschoben sei 27). Allein
die Natürlichkeit, welche man an der Darstellung dieser
Sache bei Lukas rühmt, kann ich nicht entdecken. Abgese-
hen davon, was die bezeichneten Kritiker selbst unwahr-
scheinlich finden, daſs die Jünger Jesu bis zur lezten Reise,
in welche Lukas die Scene versezt, ohne Anweisung zu beten
gewesen sein sollten, fällt überhaupt schon das, daſs Jesus
mit einer solchen gewartet haben soll, bis die Jünger ihn
darum ersuchten, und daſs er dann auf ihr Begehren sich
sogleich in ein Gebet geworfen haben soll, schwer zu glau-
ben; sondern gewiſs hat er von Anfang an oft in ihrem
Kreise gebetet, dann aber war ihre Bitte überflüssig, und
er muſste sie, wenn sie doch baten, wie Joh. 14, 9. auf
das verweisen, was sie in seinem Umgang längst haben se-
hen und hören können. Die Darstellung bei Lukas scheint
nach bloſser Vermuthung gemacht, indem man zwar wuſste,
daſs jenes Gebet von Jesu herrührte, auf die weitere Fra-
ge aber, was ihn zur Mittheilung desselben bewogen ha-
be, sich selbst die Antwort ertheilte, ohne Zweifel werden
sie ihn um ein Mustergebet ersucht haben. Ohne daher
behaupten zu wollen, daſs Matthäus uns die Verbindung
aufbewahrt habe, in welcher dieses Gebet ursprünglich
von Jesu gesprochen ist, zweifeln wir doch ebensosehr,
ob wir diese bei Lukas zu lesen bekommen. Was das
27) Schleiermacher, a. a. O. S. 173. Olshausen, S. 235. Sief-
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