Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Sechstes Kapitel. §. 72.

Um daher nicht zugeben zu müssen, dass von zwei
inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch
der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene,
der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der
andre später dasselbe reden liesse, zudem entweder der
eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol-
che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik
beide Reden für verschieden erklärt 1), mit Berufung
darauf, dass Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters
behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders
schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne.
So unbedenklich diess von einzelnen Sentenzen zuzugeben
ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu
leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte
und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung
und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann
ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt
ausgeführten Anfang und Schluss, wie ihn die in Frage
stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des
auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu
wiederholten Malen gebrauchen.

Musste man sich daher für die Identität beider Reden
entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen
beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu
erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet
blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals
hat Paulus das epi bei Lukas premirt und von einem Ste-
hen über der Ebene, also auf einem Hügel erklärt 2);
besser Tholuck den topos pedinos von der eigentlichen
Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei-

1) Augustin. de consens. ev. 2, 19. Storr, über den Zweck
u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in Tholuck's Aus-
legung der Bergpredigt, Einl. §. 1.
2) exeg. Handb. 1, b, S. 572.
Sechstes Kapitel. §. 72.

Um daher nicht zugeben zu müssen, daſs von zwei
inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch
der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene,
der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der
andre später dasselbe reden lieſse, zudem entweder der
eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol-
che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik
beide Reden für verschieden erklärt 1), mit Berufung
darauf, daſs Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters
behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders
schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne.
So unbedenklich dieſs von einzelnen Sentenzen zuzugeben
ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu
leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte
und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung
und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann
ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt
ausgeführten Anfang und Schluſs, wie ihn die in Frage
stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des
auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu
wiederholten Malen gebrauchen.

Muſste man sich daher für die Identität beider Reden
entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen
beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu
erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet
blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals
hat Paulus das ἐπὶ bei Lukas premirt und von einem Ste-
hen über der Ebene, also auf einem Hügel erklärt 2);
besser Tholuck den τόπος πεδινὸς von der eigentlichen
Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei-

1) Augustin. de consens. ev. 2, 19. Storr, über den Zweck
u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in Tholuck's Aus-
legung der Bergpredigt, Einl. §. 1.
2) exeg. Handb. 1, b, S. 572.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0595" n="571"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sechstes Kapitel</hi>. §. 72.</fw><lb/>
            <p>Um daher nicht zugeben zu müssen, da&#x017F;s von zwei<lb/>
inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch<lb/>
der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene,<lb/>
der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der<lb/>
andre später dasselbe reden lie&#x017F;se, zudem entweder der<lb/>
eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol-<lb/>
che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik<lb/>
beide Reden für verschieden erklärt <note place="foot" n="1)">Augustin. de consens. ev. 2, 19. <hi rendition="#k">Storr</hi>, über den Zweck<lb/>
u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in <hi rendition="#k">Tholuck</hi>'s Aus-<lb/>
legung der Bergpredigt, Einl. §. 1.</note>, mit Berufung<lb/>
darauf, da&#x017F;s Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters<lb/>
behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders<lb/>
schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne.<lb/>
So unbedenklich die&#x017F;s von einzelnen Sentenzen zuzugeben<lb/>
ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu<lb/>
leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte<lb/>
und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung<lb/>
und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann<lb/>
ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt<lb/>
ausgeführten Anfang und Schlu&#x017F;s, wie ihn die in Frage<lb/>
stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des<lb/>
auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu<lb/>
wiederholten Malen gebrauchen.</p><lb/>
            <p>Mu&#x017F;ste man sich daher für die Identität beider Reden<lb/>
entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen<lb/>
beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu<lb/>
erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet<lb/>
blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals<lb/>
hat <hi rendition="#k">Paulus</hi> das <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x1F76;</foreign> bei Lukas premirt und von einem Ste-<lb/>
hen <hi rendition="#g">über</hi> der Ebene, also auf einem Hügel erklärt <note place="foot" n="2)">exeg. Handb. 1, b, S. 572.</note>;<lb/>
besser <hi rendition="#k">Tholuck</hi> den <foreign xml:lang="ell">&#x03C4;&#x03CC;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C0;&#x03B5;&#x03B4;&#x03B9;&#x03BD;&#x1F78;&#x03C2;</foreign> von der eigentlichen<lb/>
Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[571/0595] Sechstes Kapitel. §. 72. Um daher nicht zugeben zu müssen, daſs von zwei inspirirten Evangelisten einer Unrecht habe, wenn doch der eine Jesum auf dem Berge, der andre auf der Ebene, der eine sitzend, der andere stehend, der eine früher, der andre später dasselbe reden lieſse, zudem entweder der eine wesentliche Auslassungen, oder der andere ebensol- che Zusätze sich erlaubt hätte: hat die alte Harmonistik beide Reden für verschieden erklärt 1), mit Berufung darauf, daſs Jesus wichtige Stücke seiner Lehre öfters behandelt haben müsse, und dabei auch gewisse besonders schlagende Aussprüche wörtlich wiederholt haben könne. So unbedenklich dieſs von einzelnen Sentenzen zuzugeben ist, so entschieden ist es von längeren Ausführungen zu leugnen; ja selbst jene kurzen Gnomen wird der begabte und erfindungsreiche Lehrer jedesmal in andrer Stellung und Verbindung vorzubringen wissen, und unmöglich kann ein anderer als ein ganz dürftiger Kopf einen so bestimmt ausgeführten Anfang und Schluſs, wie ihn die in Frage stehenden Reden an den Makarismen und dem Bilde des auf Felsen oder auf Sand gebauten Hauses haben, zu wiederholten Malen gebrauchen. Muſste man sich daher für die Identität beider Reden entscheiden, so galt es zuerst, die Differenzen zwischen beiden Relationen auszugleichen, oder auf eine Weise zu erklären, bei welcher ihre Glaubwürdigkeit unangetastet blieb. In Bezug auf die verschiedene Bezeichnung des Lokals hat Paulus das ἐπὶ bei Lukas premirt und von einem Ste- hen über der Ebene, also auf einem Hügel erklärt 2); besser Tholuck den τόπος πεδινὸς von der eigentlichen Ebene unterschieden und als eine weniger gähe Stelle sei- 1) Augustin. de consens. ev. 2, 19. Storr, über den Zweck u. s. f. S. 347 ff. Die weitere Literatur s. in Tholuck's Aus- legung der Bergpredigt, Einl. §. 1. 2) exeg. Handb. 1, b, S. 572.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/595
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/595>, abgerufen am 22.11.2024.