Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. §. 8.
dern von patriotisch-poetischer Tendenz, die patriotische
Wissbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In-
teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer,
desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas-
sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen
ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der
A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat
man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt,
die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli-
chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene
Erzählungen als historische Quelle benützen zu können.
Diess liesse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte
neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli-
che Relation besässen. Das ist aber in Bezug auf die
A. T.liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden
uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht
für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist
uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und
Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung
und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche
Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon
durch den Satz widerlegt, dass die einzige Erkenntniss-
quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die-
selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht
hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär-
tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache,
welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön-
nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden,
von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns
nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem
die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also 8) incon-
sequent und willkührlich, der Poesie nur die Einkleidung
A. T.licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber der

8) S. die Vorrede, im Anfang.
Das Leben Jesu I. Band. 3

Einleitung. §. 8.
dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische
Wiſsbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In-
teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer,
desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas-
sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen
ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der
A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat
man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt,
die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli-
chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene
Erzählungen als historische Quelle benützen zu können.
Dieſs lieſse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte
neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli-
che Relation besäſsen. Das ist aber in Bezug auf die
A. T.liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden
uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht
für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist
uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und
Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung
und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche
Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon
durch den Satz widerlegt, daſs die einzige Erkenntniſs-
quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die-
selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht
hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär-
tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache,
welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön-
nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden,
von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns
nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem
die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also 8) incon-
sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung
A. T.licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber der

8) S. die Vorrede, im Anfang.
Das Leben Jesu I. Band. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="33"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 8.</fw><lb/>
dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische<lb/>
Wi&#x017F;sbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In-<lb/>
teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer,<lb/>
desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas-<lb/>
sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen<lb/>
ein. Indem nun, fährt <hi rendition="#k">de Wette</hi> fort, ein guter Theil der<lb/>
A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat<lb/>
man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt,<lb/>
die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli-<lb/>
chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene<lb/>
Erzählungen als historische Quelle benützen zu können.<lb/>
Die&#x017F;s lie&#x017F;se sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte<lb/>
neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli-<lb/>
che Relation <choice><sic>besä&#x017F;seu</sic><corr>besä&#x017F;sen</corr></choice>. Das ist aber in Bezug auf die<lb/>
A. T.liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden<lb/>
uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht<lb/>
für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist<lb/>
uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und<lb/>
Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung<lb/>
und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche<lb/>
Erklärungsweise ist nach <hi rendition="#k">de Wette</hi> im Allgemeinen schon<lb/>
durch den Satz widerlegt, da&#x017F;s die einzige Erkenntni&#x017F;s-<lb/>
quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die-<lb/>
selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht<lb/>
hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär-<lb/>
tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache,<lb/>
welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön-<lb/>
nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden,<lb/>
von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns<lb/>
nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem<lb/>
die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also <note place="foot" n="8)">S. die Vorrede, im Anfang.</note> incon-<lb/>
sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung<lb/>
A. T.licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu I. Band.</hi> 3</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0057] Einleitung. §. 8. dern von patriotisch-poëtischer Tendenz, die patriotische Wiſsbegierde aber begnügt sich mit Allem, was ihrem In- teresse schmeichelt: je schöner, ehrenvoller, wunderbarer, desto annehmlicher, und wo die Überlieferung Lücken gelas- sen hat, da tritt sogleich die Phantasie mit ihren Ergänzungen ein. Indem nun, fährt de Wette fort, ein guter Theil der A. T. lichen Geschichtsbücher dieses Gepräge trägt, so hat man (von Seiten der natürlichen Erklärer) bisher geglaubt, die Ausschmückungen und Umbildungen des geschichtli- chen Stoffs von diesem trennen und so doch noch jene Erzählungen als historische Quelle benützen zu können. Dieſs lieſse sich thun, wenn wir über dieselbe Geschichte neben der wunderhaften noch eine andre, reingeschichtli- che Relation besäſsen. Das ist aber in Bezug auf die A. T.liche Geschichte nicht der Fall, sondern wir finden uns ganz an jene Berichte gewiesen, welche wir nicht für reinhistorische erkennen können. In diesen aber ist uns kein Kriterium zur Unterscheidung des Wahren und Falschen gegeben, weil sie Beides in bunter Vermischung und mit gleicher Dignität enthalten. Die ganze natürliche Erklärungsweise ist nach de Wette im Allgemeinen schon durch den Satz widerlegt, daſs die einzige Erkenntniſs- quelle einer Geschichte die Relation ist, die wir über die- selbe besitzen, und über die Relation der Historiker nicht hinausgehen darf. Diese berichtet uns aber im gegenwär- tigen Falle nur den übernatürlichen Hergang der Sache, welchen wir nur entweder annehmen oder verwerfen kön- nen; im letzteren Falle aber müssen wir uns bescheiden, von dem Hergang gar nichts zu wissen, und dürfen uns nicht erlauben, einen natürlichen zu erdichten, von welchem die Relation nicht das Mindeste sagt. Es ist also 8) incon- sequent und willkührlich, der Poësie nur die Einkleidung A. T.licher Thatsachen zuzuschreiben, die Fakta aber der 8) S. die Vorrede, im Anfang. Das Leben Jesu I. Band. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/57
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/57>, abgerufen am 28.04.2024.