Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be-
reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk-
lich machen wollen, dass er jezt bereit sei, mit ihm nach
Hause und zur Tafel zu gehen 7). Allein die Mahlzeit
erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern
als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein
bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch
ein akoloutheso soi, nicht durch ein akolouthei moi sich an-
sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze
Anekdote so bedeutungslos, dass sie besser weggeblieben
wäre 8). Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser
Scene, und wir müssen sagen: diess ist nicht der Gang
des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes,
der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit
achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poesie ist es,
welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche
den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens-
kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung
zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug
seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte
verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge-
schichtliche Grundlage mag also sein, dass Jesus wirklich
unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und dass namentlich
Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann
allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen,
doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht,
wie die Sage es malte, im eigentlichen.

Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, dass
der Zöllner alsbald ein grosses Mahl für Jesum in Bereit-
schaft hat. Denn dass dieses Mahl erst an einem der fol-
genden Tage veranstaltet worden sei 9), ist ganz gegen

7) Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240.
8) Schleiermacher, über den Lukas, S. 79.
9) Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 470.

Zweiter Abschnitt.
habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be-
reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk-
lich machen wollen, daſs er jezt bereit sei, mit ihm nach
Hause und zur Tafel zu gehen 7). Allein die Mahlzeit
erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern
als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein
bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch
ein ἀκολουϑήσω σοι, nicht durch ein ἀκολούϑει μοι sich an-
sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze
Anekdote so bedeutungslos, daſs sie besser weggeblieben
wäre 8). Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser
Scene, und wir müssen sagen: dieſs ist nicht der Gang
des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes,
der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit
achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poësie ist es,
welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche
den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens-
kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung
zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug
seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte
verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge-
schichtliche Grundlage mag also sein, daſs Jesus wirklich
unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und daſs namentlich
Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann
allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen,
doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht,
wie die Sage es malte, im eigentlichen.

Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, daſs
der Zöllner alsbald ein groſses Mahl für Jesum in Bereit-
schaft hat. Denn daſs dieses Mahl erst an einem der fol-
genden Tage veranstaltet worden sei 9), ist ganz gegen

7) Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240.
8) Schleiermacher, über den Lukas, S. 79.
9) Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 470.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0568" n="544"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be-<lb/>
reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk-<lb/>
lich machen wollen, da&#x017F;s er jezt bereit sei, mit ihm nach<lb/>
Hause und zur Tafel zu gehen <note place="foot" n="7)">Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240.</note>. Allein die Mahlzeit<lb/>
erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern<lb/>
als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein<lb/>
bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch<lb/>
ein <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BA;&#x03BF;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C5;&#x03D1;&#x03AE;&#x03C3;&#x03C9; &#x03C3;&#x03BF;&#x03B9;</foreign>, nicht durch ein <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BA;&#x03BF;&#x03BB;&#x03BF;&#x03CD;&#x03D1;&#x03B5;&#x03B9; &#x03BC;&#x03BF;&#x03B9;</foreign> sich an-<lb/>
sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze<lb/>
Anekdote so bedeutungslos, da&#x017F;s sie besser weggeblieben<lb/>
wäre <note place="foot" n="8)"><hi rendition="#k">Schleiermacher</hi>, über den Lukas, S. 79.</note>. Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser<lb/>
Scene, und wir müssen sagen: die&#x017F;s ist nicht der Gang<lb/>
des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes,<lb/>
der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit<lb/>
achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poësie ist es,<lb/>
welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche<lb/>
den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens-<lb/>
kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung<lb/>
zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug<lb/>
seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte<lb/>
verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge-<lb/>
schichtliche Grundlage mag also sein, da&#x017F;s Jesus wirklich<lb/>
unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und da&#x017F;s namentlich<lb/>
Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann<lb/>
allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen,<lb/>
doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht,<lb/>
wie die Sage es malte, im eigentlichen.</p><lb/>
            <p>Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, da&#x017F;s<lb/>
der Zöllner alsbald ein gro&#x017F;ses Mahl für Jesum in Bereit-<lb/>
schaft hat. Denn da&#x017F;s dieses Mahl erst an einem der fol-<lb/>
genden Tage veranstaltet worden sei <note place="foot" n="9)"><hi rendition="#k">Gratz</hi>, Comm. z. Matth. 1, S. 470.</note>, ist ganz gegen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[544/0568] Zweiter Abschnitt. habe dem Freunde, der ihm für diesen Tag ein Mahl be- reitet hatte, nach geendigtem Lehrgeschäft nur bemerk- lich machen wollen, daſs er jezt bereit sei, mit ihm nach Hause und zur Tafel zu gehen 7). Allein die Mahlzeit erscheint, namentlich bei Lukas, nicht als Grund, sondern als Folge jener Abberufung; zur Mahlzeit ferner wird ein bescheidener Gast dem Wirth der ihn geladen nur durch ein ἀκολουϑήσω σοι, nicht durch ein ἀκολούϑει μοι sich an- sagen; endlich wird ja bei dieser Auffassung die ganze Anekdote so bedeutungslos, daſs sie besser weggeblieben wäre 8). Somit bleibt das Jähe und Gewaltsame dieser Scene, und wir müssen sagen: dieſs ist nicht der Gang des wirklichen Lebens, noch das Verfahren eines Mannes, der, wie Jesus, die Gesetze und Formen der Wirklichkeit achtet, sondern das Verfahren der Sage und Poësie ist es, welche Contraste und ergreifende Scenen liebt, welche den Austritt eines Mannes aus einem früheren Lebens- kreise und den Eintritt in einen neuen durch die Wendung zu veranschaulichen sucht, derselbe habe das Werkzeug seines bisherigen Treibens weggeworfen, seine Werkstätte verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Die ge- schichtliche Grundlage mag also sein, daſs Jesus wirklich unter seinen Jüngern Zöllner hatte, und daſs namentlich Matthäus vielleicht einer war. Diese Männer hatten dann allerdings die Zollbank verlassen, um Jesu nachzufolgen, doch nur im tropischen Sinne dieser Redensart, und nicht, wie die Sage es malte, im eigentlichen. Auch das ist nun erstaunlich rasch und promt, daſs der Zöllner alsbald ein groſses Mahl für Jesum in Bereit- schaft hat. Denn daſs dieses Mahl erst an einem der fol- genden Tage veranstaltet worden sei 9), ist ganz gegen 7) Exeg. Handb. 1, b, S. 510. L. J. 1, a, 240. 8) Schleiermacher, über den Lukas, S. 79. 9) Gratz, Comm. z. Matth. 1, S. 470.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/568
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/568>, abgerufen am 18.05.2024.