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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
so etwas nicht zuschreiben will: so geht seine Intention
unverkennbar dahin, Jesu ein übernatürliches Wissen um
den Charakter Nathanaels zuzuschreiben. Ebensowenig ist
das onta upo ten suken eidon se durch den Paulus'schen
Ausspruch: wie oft sieht und beobachtet man einen, der
es selbst nicht bemerkt! erklärt. Zwar denken auch Lücke
und Tholuck hier an ein natürliches Beobachten, nur dass
sie Jesum den Nathanael in einer Situation beobachten las-
sen, welche, wie etwa Gebet und Studium des Gesetzes,
ihm einen Schluss auf den Charakter des Mannes möglich
gemacht habe. Allein, wollte Jesus sagen: wie sollte ich
von deiner Redlichkeit nicht überzeugt sein, da ich ja dein
eifriges Bibelstudium und brünstiges Gebet unter der suke
beobachtet habe? so müsste doch wohl ein proseukhomenon
oder anaginoskonta dabeistehen; ohne diesen Beisaz kann
als Sinn des Ausspruchs nur dieser erscheinen: mein Ver-
mögen, in dein Inneres zu blicken, kannst du daraus er-
kennen, dass ich dich in einer Lage, in welcher du auf
natürliche Weise keinen Beobachter hattest, gesehen habe,
-- wobei es also auf eine bestimmte Situation des Gesehe-
nen nicht ankommt, sondern einzig auf das Sehen Jesu,
welches, sofern aller Nachdruck auf demselben liegt, kein
natürliches gewesen sein kann. Ein solches Fernsehen bei
Jesu anzunehmen ist freilich sehr abenteuerlich, aber de-
sto angemessener dem damaligen Begriffe von einem Pro-
pheten und dem Messias. Ein ganz ähnliches Fernsehen
und Fernhören wird schon im A. T. dem Elisa zugeschrie-
ben. Als (nach 2 Kön. 6, 8 ff.) der König von Syrien ge-
gen Israel Krieg führte, zeigte Elisa jedesmal dem israeli-
tischen König an, wo die Feinde sich gelagert hatten, und
als der König von Syrien Verrath durch Überläufer vermu-
thete, wurde er belehrt, dass der israelitische Prophet Al-
les wisse, was der König in seinem innersten Gemach rede.
Wie konnte man hinter diesem Seherblick des Propheten
den Messias zurückbleiben lassen? Insbesondere aber unse-

Zweiter Abschnitt.
so etwas nicht zuschreiben will: so geht seine Intention
unverkennbar dahin, Jesu ein übernatürliches Wissen um
den Charakter Nathanaëls zuzuschreiben. Ebensowenig ist
das ὄντα ὑπὸ τὴν συκῆν εἶδόν σε durch den Paulus'schen
Ausspruch: wie oft sieht und beobachtet man einen, der
es selbst nicht bemerkt! erklärt. Zwar denken auch Lücke
und Tholuck hier an ein natürliches Beobachten, nur daſs
sie Jesum den Nathanaël in einer Situation beobachten las-
sen, welche, wie etwa Gebet und Studium des Gesetzes,
ihm einen Schluſs auf den Charakter des Mannes möglich
gemacht habe. Allein, wollte Jesus sagen: wie sollte ich
von deiner Redlichkeit nicht überzeugt sein, da ich ja dein
eifriges Bibelstudium und brünstiges Gebet unter der συκῆ
beobachtet habe? so müſste doch wohl ein προσευχόμενον
oder ἀναγινώσκοντα dabeistehen; ohne diesen Beisaz kann
als Sinn des Ausspruchs nur dieser erscheinen: mein Ver-
mögen, in dein Inneres zu blicken, kannst du daraus er-
kennen, daſs ich dich in einer Lage, in welcher du auf
natürliche Weise keinen Beobachter hattest, gesehen habe,
— wobei es also auf eine bestimmte Situation des Gesehe-
nen nicht ankommt, sondern einzig auf das Sehen Jesu,
welches, sofern aller Nachdruck auf demselben liegt, kein
natürliches gewesen sein kann. Ein solches Fernsehen bei
Jesu anzunehmen ist freilich sehr abenteuerlich, aber de-
sto angemessener dem damaligen Begriffe von einem Pro-
pheten und dem Messias. Ein ganz ähnliches Fernsehen
und Fernhören wird schon im A. T. dem Elisa zugeschrie-
ben. Als (nach 2 Kön. 6, 8 ff.) der König von Syrien ge-
gen Israël Krieg führte, zeigte Elisa jedesmal dem israëli-
tischen König an, wo die Feinde sich gelagert hatten, und
als der König von Syrien Verrath durch Überläufer vermu-
thete, wurde er belehrt, daſs der israëlitische Prophet Al-
les wisse, was der König in seinem innersten Gemach rede.
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den Messias zurückbleiben lassen? Insbesondere aber unse-

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[530/0554] Zweiter Abschnitt. so etwas nicht zuschreiben will: so geht seine Intention unverkennbar dahin, Jesu ein übernatürliches Wissen um den Charakter Nathanaëls zuzuschreiben. Ebensowenig ist das ὄντα ὑπὸ τὴν συκῆν εἶδόν σε durch den Paulus'schen Ausspruch: wie oft sieht und beobachtet man einen, der es selbst nicht bemerkt! erklärt. Zwar denken auch Lücke und Tholuck hier an ein natürliches Beobachten, nur daſs sie Jesum den Nathanaël in einer Situation beobachten las- sen, welche, wie etwa Gebet und Studium des Gesetzes, ihm einen Schluſs auf den Charakter des Mannes möglich gemacht habe. Allein, wollte Jesus sagen: wie sollte ich von deiner Redlichkeit nicht überzeugt sein, da ich ja dein eifriges Bibelstudium und brünstiges Gebet unter der συκῆ beobachtet habe? so müſste doch wohl ein προσευχόμενον oder ἀναγινώσκοντα dabeistehen; ohne diesen Beisaz kann als Sinn des Ausspruchs nur dieser erscheinen: mein Ver- mögen, in dein Inneres zu blicken, kannst du daraus er- kennen, daſs ich dich in einer Lage, in welcher du auf natürliche Weise keinen Beobachter hattest, gesehen habe, — wobei es also auf eine bestimmte Situation des Gesehe- nen nicht ankommt, sondern einzig auf das Sehen Jesu, welches, sofern aller Nachdruck auf demselben liegt, kein natürliches gewesen sein kann. Ein solches Fernsehen bei Jesu anzunehmen ist freilich sehr abenteuerlich, aber de- sto angemessener dem damaligen Begriffe von einem Pro- pheten und dem Messias. Ein ganz ähnliches Fernsehen und Fernhören wird schon im A. T. dem Elisa zugeschrie- ben. Als (nach 2 Kön. 6, 8 ff.) der König von Syrien ge- gen Israël Krieg führte, zeigte Elisa jedesmal dem israëli- tischen König an, wo die Feinde sich gelagert hatten, und als der König von Syrien Verrath durch Überläufer vermu- thete, wurde er belehrt, daſs der israëlitische Prophet Al- les wisse, was der König in seinem innersten Gemach rede. Wie konnte man hinter diesem Seherblick des Propheten den Messias zurückbleiben lassen? Insbesondere aber unse-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/554>, abgerufen am 18.05.2024.