unmittelbar nach Jesu Zeit die Idee von einer Präexistenz des Messias gegeben war: so liegt die Vermuthung nahe, dass dieselbe auch schon in der Zeit, in welcher Jesus sich bildete, vorhanden gewesen, und dass er somit, wenn er sich einmal als Messias fasste, auch diesen Zug der Messias- vorstellung auf sich habe übertragen können. Ob jedoch Jesus so weit wie etwa ein Paulus in die Schulweisheit seiner Zeit eingeweiht gewesen ist, so dass er aus ihr jene Vorstellung schöpfen konnte, ist noch die Frage, und da nur der mit alexandrinischer Logologie vertraute Verfasser des vierten Evangeliums ihm die Behauptung einer Präexi- stenz in den Mund legt, so muss es sehr zweifelhaft blei- ben, ob sie der eigenen Ansicht Jesu von sich, oder nur der Reflexion des vierten Evangelisten über ihn angehört.
§. 61. Der messianische Plan Jesu. Politische Seite.
Jesus verkündigte, wie wir gesehen haben, früher vielleicht unbestimmt irgend einen, später bestimmt sich selbst als denjenigen, welcher die bas[i]leia ton ouranon zu stiften gekommen sei. Die Idee des messianischen Reiches gehörte dem israelitischen Volke an; es fragt sich: hat Jesus sie nur so, wie er sie unter diesem vorfand, aufge- nommen, oder auch selbstständig Modificationen an dersel- ben angebracht?
Da die Idee eines Messias unter den Juden aus politisch- religiösem Boden erwachsen, ihre weitere Ausbildung vorzüg- lich durch das politische Unglück der Zeiten befördert wor- den war, und auch zu Jesu Zeit, nach dem eigenen Zeug- niss der Evangelien, erwartet wurde, dass er den Herr- scherstuhl seines Ahnherrn David besteigen, das jüdische Volk vom Drucke der Römer befreien und ein Reich ohne Ende stiften werde (Luc. 1, 32 f. 68 ff. A. G. 1, 6): so muss unsre erste Frage diese sein, ob Jesus auch dieses politische
Viertes Kapitel. §. 61.
unmittelbar nach Jesu Zeit die Idee von einer Präexistenz des Messias gegeben war: so liegt die Vermuthung nahe, daſs dieselbe auch schon in der Zeit, in welcher Jesus sich bildete, vorhanden gewesen, und daſs er somit, wenn er sich einmal als Messias faſste, auch diesen Zug der Messias- vorstellung auf sich habe übertragen können. Ob jedoch Jesus so weit wie etwa ein Paulus in die Schulweisheit seiner Zeit eingeweiht gewesen ist, so daſs er aus ihr jene Vorstellung schöpfen konnte, ist noch die Frage, und da nur der mit alexandrinischer Logologie vertraute Verfasser des vierten Evangeliums ihm die Behauptung einer Präexi- stenz in den Mund legt, so muſs es sehr zweifelhaft blei- ben, ob sie der eigenen Ansicht Jesu von sich, oder nur der Reflexion des vierten Evangelisten über ihn angehört.
§. 61. Der messianische Plan Jesu. Politische Seite.
Jesus verkündigte, wie wir gesehen haben, früher vielleicht unbestimmt irgend einen, später bestimmt sich selbst als denjenigen, welcher die βασ[ι]λεία τῶν οὐρανῶν zu stiften gekommen sei. Die Idee des messianischen Reiches gehörte dem israëlitischen Volke an; es fragt sich: hat Jesus sie nur so, wie er sie unter diesem vorfand, aufge- nommen, oder auch selbstständig Modificationen an dersel- ben angebracht?
Da die Idee eines Messias unter den Juden aus politisch- religiösem Boden erwachsen, ihre weitere Ausbildung vorzüg- lich durch das politische Unglück der Zeiten befördert wor- den war, und auch zu Jesu Zeit, nach dem eigenen Zeug- niſs der Evangelien, erwartet wurde, daſs er den Herr- scherstuhl seines Ahnherrn David besteigen, das jüdische Volk vom Drucke der Römer befreien und ein Reich ohne Ende stiften werde (Luc. 1, 32 f. 68 ff. A. G. 1, 6): so muſs unsre erste Frage diese sein, ob Jesus auch dieses politische
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Viertes Kapitel. §. 61.
unmittelbar nach Jesu Zeit die Idee von einer Präexistenz
des Messias gegeben war: so liegt die Vermuthung nahe,
daſs dieselbe auch schon in der Zeit, in welcher Jesus sich
bildete, vorhanden gewesen, und daſs er somit, wenn er
sich einmal als Messias faſste, auch diesen Zug der Messias-
vorstellung auf sich habe übertragen können. Ob jedoch
Jesus so weit wie etwa ein Paulus in die Schulweisheit
seiner Zeit eingeweiht gewesen ist, so daſs er aus ihr jene
Vorstellung schöpfen konnte, ist noch die Frage, und da
nur der mit alexandrinischer Logologie vertraute Verfasser
des vierten Evangeliums ihm die Behauptung einer Präexi-
stenz in den Mund legt, so muſs es sehr zweifelhaft blei-
ben, ob sie der eigenen Ansicht Jesu von sich, oder nur
der Reflexion des vierten Evangelisten über ihn angehört.
§. 61.
Der messianische Plan Jesu. Politische Seite.
Jesus verkündigte, wie wir gesehen haben, früher
vielleicht unbestimmt irgend einen, später bestimmt sich
selbst als denjenigen, welcher die βασιλεία τῶν οὐρανῶν zu
stiften gekommen sei. Die Idee des messianischen Reiches
gehörte dem israëlitischen Volke an; es fragt sich: hat
Jesus sie nur so, wie er sie unter diesem vorfand, aufge-
nommen, oder auch selbstständig Modificationen an dersel-
ben angebracht?
Da die Idee eines Messias unter den Juden aus politisch-
religiösem Boden erwachsen, ihre weitere Ausbildung vorzüg-
lich durch das politische Unglück der Zeiten befördert wor-
den war, und auch zu Jesu Zeit, nach dem eigenen Zeug-
niſs der Evangelien, erwartet wurde, daſs er den Herr-
scherstuhl seines Ahnherrn David besteigen, das jüdische
Volk vom Drucke der Römer befreien und ein Reich ohne
Ende stiften werde (Luc. 1, 32 f. 68 ff. A. G. 1, 6): so muſs
unsre erste Frage diese sein, ob Jesus auch dieses politische
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/511>, abgerufen am 22.11.2024.
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