im N. T. werden die Apostel vor dem Antritt ihres Be- rufs mit höheren Kräften ausgerüstet (A.G. 2.). Hienach lässt sich zum Voraus vermuthen, dass der ursprünglichen Tendenz der Evangelien zufolge mit der Weihe Jesu bei der Taufe zugleich eine Ausrüstung desselben mit höheren Kräften werde verbunden zu denken sein, und der An- blick unsrer Erzählungen bestätigt diess. Denn die synop- tischen bemerken alle, dass nach der Taufe das pneuma Jesum in die Wüste geführt habe, offenbar, um diesen Gang als die erste Wirkung des bei der Taufe empfange- nen höheren Princips zu bezeichnen; bei Johannes aber scheint das dem auf Jesum herabkommenden Geiste zuge- schriebene menein ep' aut[o]n (1, 33.) anzudeuten, dass von der Taufe an ein früher nicht stattgefundenes Verhältniss des pneuma agion zu Jesu eingetreten sei.
Diese Bedeutung des Wunderbaren bei Jesu Taufe scheint mit den Erzählungen von seiner Erzeugung im Wi- derspruch zu stehen. War Jesus nach Matthäus und Lu- kas durch den heiligen Geist erzeugt, oder war in ihm gar nach Johannes gleich von Anfang an der göttliche logos Fleisch geworden 2): wozu bedurfte er dann noch bei sei- ner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem pneuma agion? Mehrere neuere Erklärer haben diese Schwierigkeit gefühlt und zu lösen gesucht. Was Olshausen darüber vorbringt 3), läuft auf den Unterschied des Potentiellen und Aktuellen hinaus, womit es aber sich selbst widerlegt. Ist nämlich der Charakter des Kh[r]isos, welcher in Jesu mit erreichtem Mannesalter bei der Taufe actu hervortrat, schon in dem Kinde und Jüngling potentia vorhanden ge- wesen: so war damit auch ein Entwicklungstrieb gesezt, vermöge dessen jene Anlage sich von innen heraus allmäh-
2) Dass diess der Sinn des Johannes sei, darüber vergl. Lücke S. 377 f.
3) Bibl. Comm. 1, S. 175 f.
Zweiter Abschnitt.
im N. T. werden die Apostel vor dem Antritt ihres Be- rufs mit höheren Kräften ausgerüstet (A.G. 2.). Hienach läſst sich zum Voraus vermuthen, daſs der ursprünglichen Tendenz der Evangelien zufolge mit der Weihe Jesu bei der Taufe zugleich eine Ausrüstung desselben mit höheren Kräften werde verbunden zu denken sein, und der An- blick unsrer Erzählungen bestätigt dieſs. Denn die synop- tischen bemerken alle, daſs nach der Taufe das πνεῦμα Jesum in die Wüste geführt habe, offenbar, um diesen Gang als die erste Wirkung des bei der Taufe empfange- nen höheren Princips zu bezeichnen; bei Johannes aber scheint das dem auf Jesum herabkommenden Geiste zuge- schriebene μένειν ἐπ' αὐτ[ὸ]ν (1, 33.) anzudeuten, daſs von der Taufe an ein früher nicht stattgefundenes Verhältniſs des πνεῦμα ἅγιον zu Jesu eingetreten sei.
Diese Bedeutung des Wunderbaren bei Jesu Taufe scheint mit den Erzählungen von seiner Erzeugung im Wi- derspruch zu stehen. War Jesus nach Matthäus und Lu- kas durch den heiligen Geist erzeugt, oder war in ihm gar nach Johannes gleich von Anfang an der göttliche λόγος Fleisch geworden 2): wozu bedurfte er dann noch bei sei- ner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem πνεῦμα ἄγιον? Mehrere neuere Erklärer haben diese Schwierigkeit gefühlt und zu lösen gesucht. Was Olshausen darüber vorbringt 3), läuft auf den Unterschied des Potentiellen und Aktuellen hinaus, womit es aber sich selbst widerlegt. Ist nämlich der Charakter des Χ[ϱ]ιςὸς, welcher in Jesu mit erreichtem Mannesalter bei der Taufe actu hervortrat, schon in dem Kinde und Jüngling potentia vorhanden ge- wesen: so war damit auch ein Entwicklungstrieb gesezt, vermöge dessen jene Anlage sich von innen heraus allmäh-
2) Dass diess der Sinn des Johannes sei, darüber vergl. Lücke S. 377 f.
3) Bibl. Comm. 1, S. 175 f.
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Zweiter Abschnitt.
im N. T. werden die Apostel vor dem Antritt ihres Be-
rufs mit höheren Kräften ausgerüstet (A.G. 2.). Hienach
läſst sich zum Voraus vermuthen, daſs der ursprünglichen
Tendenz der Evangelien zufolge mit der Weihe Jesu bei
der Taufe zugleich eine Ausrüstung desselben mit höheren
Kräften werde verbunden zu denken sein, und der An-
blick unsrer Erzählungen bestätigt dieſs. Denn die synop-
tischen bemerken alle, daſs nach der Taufe das πνεῦμα
Jesum in die Wüste geführt habe, offenbar, um diesen
Gang als die erste Wirkung des bei der Taufe empfange-
nen höheren Princips zu bezeichnen; bei Johannes aber
scheint das dem auf Jesum herabkommenden Geiste zuge-
schriebene μένειν ἐπ' αὐτὸν (1, 33.) anzudeuten, daſs von
der Taufe an ein früher nicht stattgefundenes Verhältniſs
des πνεῦμα ἅγιον zu Jesu eingetreten sei.
Diese Bedeutung des Wunderbaren bei Jesu Taufe
scheint mit den Erzählungen von seiner Erzeugung im Wi-
derspruch zu stehen. War Jesus nach Matthäus und Lu-
kas durch den heiligen Geist erzeugt, oder war in ihm
gar nach Johannes gleich von Anfang an der göttliche λόγος
Fleisch geworden 2): wozu bedurfte er dann noch bei sei-
ner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem πνεῦμα
ἄγιον? Mehrere neuere Erklärer haben diese Schwierigkeit
gefühlt und zu lösen gesucht. Was Olshausen darüber
vorbringt 3), läuft auf den Unterschied des Potentiellen
und Aktuellen hinaus, womit es aber sich selbst widerlegt.
Ist nämlich der Charakter des Χϱιςὸς, welcher in Jesu
mit erreichtem Mannesalter bei der Taufe actu hervortrat,
schon in dem Kinde und Jüngling potentia vorhanden ge-
wesen: so war damit auch ein Entwicklungstrieb gesezt,
vermöge dessen jene Anlage sich von innen heraus allmäh-
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3) Bibl. Comm. 1, S. 175 f.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/416>, abgerufen am 22.11.2024.
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