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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweites Kapitel. §. 46.
Jesu Taufe Origenes und Theodor von Mopsvestia gerade-
zu, dass sie optasia, ou phusis gewesen sei 5). Den Einfäl-
tigen freilich, sagt Origenes treffend, ist es in ihrer Ein-
falt ein Geringes, die ganze Welt in Bewegung zu setzen
und eine so fest verbundene Masse wie den Himmel zu
spalten; wer aber tiefer über dergleichen Dinge forsche,
meint er, der werde an jene höhere Eröffnung des Sinnes
denken, vermöge welcher, wie öfters im Traume, so auch
im Wachen erwählte Personen mit ihren leiblichen Sinnen
etwas zu vernehmen glauben, während doch nur ihr Ge-
müth in Bewegung gesezt ist: so dass folglich auch hier
die ganze Erscheinung nicht als äusserer Vorgang, son-
dern als innere, von Gott gewirkte Vision zu fassen wä-
re, -- eine Auffassung, welche auch unter neueren Theo-
logen vielen Beifall gefunden hat.

Sie wäre nicht unzulässig, wenn wir entweder blos
die Relation des Johannes, oder blos die des Markus be-
sässen. Denn nach dem ersteren könnte man denken, nur
der Täufer, nach dem lezteren, nur Jesus habe die Er-
scheinung gehabt, -- und was nur Einer allein, wenn
auch äusserlich, wahrzunehmen glaubt, das kann wenig-
stens möglicherweise eine blos innere Anschauung sein.
Daher hat namentlich schon Theodor darauf gedrungen,
dass das Niedersteigen des heiligen Geistes ou pasin ophthe
tois parousin, alla kata tina pneumatiken theorian ophthe
mono to Ioanne, wie das vierte Evangelium es darzustel-
len scheint. Nehmen wir aber den Johannes und den Mar-
kus zusammen: so hätten wenigstens Jesus und der Täu-
fer miteinander dieselbe Erscheinung gehabt, was nicht die
Art der Visionen ist 6); dasselbe sezt die Darstellung des
Matthäus voraus, und von Lukas gesteht auch Lücke zu,

5) Diess die Worte Theodors, in Münter's Fragmenta patr. graec.
Fasc. 1. S. 142. Orig. c. Cels. 1, 48.
6) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 368. Hase, Leben Jesu, §. 48.

Zweites Kapitel. §. 46.
Jesu Taufe Origenes und Theodor von Mopsvestia gerade-
zu, daſs sie ὀπτασία, οὐ φύσις gewesen sei 5). Den Einfäl-
tigen freilich, sagt Origenes treffend, ist es in ihrer Ein-
falt ein Geringes, die ganze Welt in Bewegung zu setzen
und eine so fest verbundene Masse wie den Himmel zu
spalten; wer aber tiefer über dergleichen Dinge forsche,
meint er, der werde an jene höhere Eröffnung des Sinnes
denken, vermöge welcher, wie öfters im Traume, so auch
im Wachen erwählte Personen mit ihren leiblichen Sinnen
etwas zu vernehmen glauben, während doch nur ihr Ge-
müth in Bewegung gesezt ist: so daſs folglich auch hier
die ganze Erscheinung nicht als äusserer Vorgang, son-
dern als innere, von Gott gewirkte Vision zu fassen wä-
re, — eine Auffassung, welche auch unter neueren Theo-
logen vielen Beifall gefunden hat.

Sie wäre nicht unzulässig, wenn wir entweder blos
die Relation des Johannes, oder blos die des Markus be-
säſsen. Denn nach dem ersteren könnte man denken, nur
der Täufer, nach dem lezteren, nur Jesus habe die Er-
scheinung gehabt, — und was nur Einer allein, wenn
auch äusserlich, wahrzunehmen glaubt, das kann wenig-
stens möglicherweise eine blos innere Anschauung sein.
Daher hat namentlich schon Theodor darauf gedrungen,
daſs das Niedersteigen des heiligen Geistes οὐ πᾶσιν ὤφϑη
τοῖς παροῦσιν, ἀλλα κατά τινα πνευματικὴν ϑεωρίαν ὤφϑη
μόνῳ τῷ Ἰωάννῃ, wie das vierte Evangelium es darzustel-
len scheint. Nehmen wir aber den Johannes und den Mar-
kus zusammen: so hätten wenigstens Jesus und der Täu-
fer miteinander dieselbe Erscheinung gehabt, was nicht die
Art der Visionen ist 6); dasselbe sezt die Darstellung des
Matthäus voraus, und von Lukas gesteht auch Lücke zu,

5) Diess die Worte Theodors, in Münter's Fragmenta patr. graec.
Fasc. 1. S. 142. Orig. c. Cels. 1, 48.
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[377/0401] Zweites Kapitel. §. 46. Jesu Taufe Origenes und Theodor von Mopsvestia gerade- zu, daſs sie ὀπτασία, οὐ φύσις gewesen sei 5). Den Einfäl- tigen freilich, sagt Origenes treffend, ist es in ihrer Ein- falt ein Geringes, die ganze Welt in Bewegung zu setzen und eine so fest verbundene Masse wie den Himmel zu spalten; wer aber tiefer über dergleichen Dinge forsche, meint er, der werde an jene höhere Eröffnung des Sinnes denken, vermöge welcher, wie öfters im Traume, so auch im Wachen erwählte Personen mit ihren leiblichen Sinnen etwas zu vernehmen glauben, während doch nur ihr Ge- müth in Bewegung gesezt ist: so daſs folglich auch hier die ganze Erscheinung nicht als äusserer Vorgang, son- dern als innere, von Gott gewirkte Vision zu fassen wä- re, — eine Auffassung, welche auch unter neueren Theo- logen vielen Beifall gefunden hat. Sie wäre nicht unzulässig, wenn wir entweder blos die Relation des Johannes, oder blos die des Markus be- säſsen. Denn nach dem ersteren könnte man denken, nur der Täufer, nach dem lezteren, nur Jesus habe die Er- scheinung gehabt, — und was nur Einer allein, wenn auch äusserlich, wahrzunehmen glaubt, das kann wenig- stens möglicherweise eine blos innere Anschauung sein. Daher hat namentlich schon Theodor darauf gedrungen, daſs das Niedersteigen des heiligen Geistes οὐ πᾶσιν ὤφϑη τοῖς παροῦσιν, ἀλλα κατά τινα πνευματικὴν ϑεωρίαν ὤφϑη μόνῳ τῷ Ἰωάννῃ, wie das vierte Evangelium es darzustel- len scheint. Nehmen wir aber den Johannes und den Mar- kus zusammen: so hätten wenigstens Jesus und der Täu- fer miteinander dieselbe Erscheinung gehabt, was nicht die Art der Visionen ist 6); dasselbe sezt die Darstellung des Matthäus voraus, und von Lukas gesteht auch Lücke zu, 5) Diess die Worte Theodors, in Münter's Fragmenta patr. graec. Fasc. 1. S. 142. Orig. c. Cels. 1, 48. 6) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 368. Hase, Leben Jesu, §. 48.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/401>, abgerufen am 25.11.2024.