Lukas (7, 20. 21. 29. 30.) giebt, sehr überzeugend nach- gewiesen, dass Matthäus diese Erzählung in der ursprüng- lichen, Lukas in einer überarbeiteten Form gebe 38). Hie- bei wäre es sonderbar, wenn sich in jenem Einem Punkte das Verhältniss umgekehrt und Matthäus das ursprünglich fehlende desmoterion von dem Seinigen hinzugesezt hätte[;] weit natürlicher ist es, anzunehmen, dass Lukas, der im ganzen Abschnitt als Überarbeiter erscheint, die ursprüng- lich angemerkte Kerkerlokalität verwischt habe.
Die Frage, was den Lukas hiezu veranlassen konnte, führt auf die verschiedenen Zeitpunkte, in welche die ver- schiedenen Evangelien die Verhaftung des Täufers fallen lassen. Matthäus, dem sich Markus anschliesst, setzt sie vor den öffentlichen Auftritt Jesu in Galiläa, indem er durch dieselbe Jesu Rückkehr in diese Provinz motivirt (Matth. 4, 12. Marc. 1, 14.); Lukas weist der Gefangen- nehmung des Täufers keine bestimmte chronologische Stelle an (s. 3, 19 f.), doch scheint sie nach ihm, da er ja bei der Sendung der beiden Jünger nichts vom Gefängniss be- merkt, erst später eingetreten zu sein; Johannes aber er- klärt noch nach Jesu erstem Messiaspascha ausdrücklich: ou"po gar en beblemenos eis ten phulaken o Ioannes (3, 24). Fragt es sich: wer hat hier Recht? so leidet die Darstel- lung des ersten Evangelisten an einer Ungeschicklichkeit, welche manche Erklärer geneigt gemacht hat, sie ohne Weiteres gegen die der beiden lezten aufzugeben. Dass nämlich Jesus auf die Kunde von des Täufers Gefangen- nehmung durch Herodes Antipas nach Galiläa, also gerade in das Gebiet dieses Fürsten sich zurückgezogen haben sollte (anekhoresen), ist, wie Schneckenburger mit Recht behauptet 39), undenkbar, da er ja gerade hier am wenig-
38) Ebendas. S. 106 f.
39) Über den Ursprung u. s. w. S. 79. Vergl. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 178.
Das Leben Jesu I. Band. 23
Erstes Kapitel. §. 42.
Lukas (7, 20. 21. 29. 30.) giebt, sehr überzeugend nach- gewiesen, daſs Matthäus diese Erzählung in der ursprüng- lichen, Lukas in einer überarbeiteten Form gebe 38). Hie- bei wäre es sonderbar, wenn sich in jenem Einem Punkte das Verhältniſs umgekehrt und Matthäus das ursprünglich fehlende δεσμωτήριον von dem Seinigen hinzugesezt hätte[;] weit natürlicher ist es, anzunehmen, daſs Lukas, der im ganzen Abschnitt als Überarbeiter erscheint, die ursprüng- lich angemerkte Kerkerlokalität verwischt habe.
Die Frage, was den Lukas hiezu veranlassen konnte, führt auf die verschiedenen Zeitpunkte, in welche die ver- schiedenen Evangelien die Verhaftung des Täufers fallen lassen. Matthäus, dem sich Markus anschlieſst, setzt sie vor den öffentlichen Auftritt Jesu in Galiläa, indem er durch dieselbe Jesu Rückkehr in diese Provinz motivirt (Matth. 4, 12. Marc. 1, 14.); Lukas weist der Gefangen- nehmung des Täufers keine bestimmte chronologische Stelle an (s. 3, 19 f.), doch scheint sie nach ihm, da er ja bei der Sendung der beiden Jünger nichts vom Gefängniſs be- merkt, erst später eingetreten zu sein; Johannes aber er- klärt noch nach Jesu erstem Messiaspascha ausdrücklich: ου῎πω γὰρ ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλακὴν ὁ Ἰωάννης (3, 24). Fragt es sich: wer hat hier Recht? so leidet die Darstel- lung des ersten Evangelisten an einer Ungeschicklichkeit, welche manche Erklärer geneigt gemacht hat, sie ohne Weiteres gegen die der beiden lezten aufzugeben. Daſs nämlich Jesus auf die Kunde von des Täufers Gefangen- nehmung durch Herodes Antipas nach Galiläa, also gerade in das Gebiet dieses Fürsten sich zurückgezogen haben sollte (ἀνεχώρησεν), ist, wie Schneckenburger mit Recht behauptet 39), undenkbar, da er ja gerade hier am wenig-
38) Ebendas. S. 106 f.
39) Über den Ursprung u. s. w. S. 79. Vergl. Fritzsche, Comm. in Matth. S. 178.
Das Leben Jesu I. Band. 23
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Erstes Kapitel. §. 42.
Lukas (7, 20. 21. 29. 30.) giebt, sehr überzeugend nach-
gewiesen, daſs Matthäus diese Erzählung in der ursprüng-
lichen, Lukas in einer überarbeiteten Form gebe 38). Hie-
bei wäre es sonderbar, wenn sich in jenem Einem Punkte
das Verhältniſs umgekehrt und Matthäus das ursprünglich
fehlende δεσμωτήριον von dem Seinigen hinzugesezt hätte;
weit natürlicher ist es, anzunehmen, daſs Lukas, der im
ganzen Abschnitt als Überarbeiter erscheint, die ursprüng-
lich angemerkte Kerkerlokalität verwischt habe.
Die Frage, was den Lukas hiezu veranlassen konnte,
führt auf die verschiedenen Zeitpunkte, in welche die ver-
schiedenen Evangelien die Verhaftung des Täufers fallen
lassen. Matthäus, dem sich Markus anschlieſst, setzt sie
vor den öffentlichen Auftritt Jesu in Galiläa, indem er
durch dieselbe Jesu Rückkehr in diese Provinz motivirt
(Matth. 4, 12. Marc. 1, 14.); Lukas weist der Gefangen-
nehmung des Täufers keine bestimmte chronologische Stelle
an (s. 3, 19 f.), doch scheint sie nach ihm, da er ja bei
der Sendung der beiden Jünger nichts vom Gefängniſs be-
merkt, erst später eingetreten zu sein; Johannes aber er-
klärt noch nach Jesu erstem Messiaspascha ausdrücklich:
ου῎πω γὰρ ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλακὴν ὁ Ἰωάννης (3, 24).
Fragt es sich: wer hat hier Recht? so leidet die Darstel-
lung des ersten Evangelisten an einer Ungeschicklichkeit,
welche manche Erklärer geneigt gemacht hat, sie ohne
Weiteres gegen die der beiden lezten aufzugeben. Daſs
nämlich Jesus auf die Kunde von des Täufers Gefangen-
nehmung durch Herodes Antipas nach Galiläa, also gerade
in das Gebiet dieses Fürsten sich zurückgezogen haben
sollte (ἀνεχώρησεν), ist, wie Schneckenburger mit Recht
behauptet 39), undenkbar, da er ja gerade hier am wenig-
38) Ebendas. S. 106 f.
39) Über den Ursprung u. s. w. S. 79. Vergl. Fritzsche, Comm.
in Matth. S. 178.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/377>, abgerufen am 25.11.2024.
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