ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno- ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden, und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk- licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.
Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My- then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe- greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich10), einen rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei- sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle; sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, dass die Ge- spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien (es genügte der Sage der anschauliche Zug kathezomenon en meso ton dida kalon, als Diktum war nur das V. 49. wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird), ja dass selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech- selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich- ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un- ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-
8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.
Erster Abschnitt.
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno- ten so verzieren, wie wir es in seiner Erzählung finden, und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk- licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.
Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My- then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe- greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich10), einen rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei- sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle; sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge- spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien (es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν μέσῳ τῶν διδα κάλων, als Diktum war nur das V. 49. wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird), ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech- selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich- ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un- ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-
8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.
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[292/0316]
Erster Abschnitt.
ders, als, der Sage folgend, auch diesen Entwicklungskno-
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und wie könnten wir anders, als seine Erzählung für eine
sagenhafte Ausschmückung jenes Entwicklungspunktes im
Leben Jesu halten 8), durch welche wir von dessen wirk-
licher Entwicklung wieder nichts 9), sondern nur von
der hohen Meinung etwas erfahren, die man in der ersten
Gemeinde von dem frühreifen Geiste Jesu hatte.
Wie nun aber gerade diese Erzählung unter die My-
then gerechnet werden könne, findet man besonders unbe-
greiflich. Trage sie doch, meint Heydenreich 10), einen
rein historischen Charakter (das ist eben erst zu bewei-
sen), und das Gepräge der höchsten Einfachheit (wie jede
Volkssage in ihrer ursprünglichen Gestalt); sie enthalte
gar nichts Wunderbares, worin doch der Hauptcharakter
eines Mythus (aber keineswegs eines jeden) bestehen solle;
sie sei so entfernt von aller Ausschmückung, daſs die Ge-
spräche Jesu mit den Lehrern gar nicht ausgeführt seien
(es genügte der Sage der anschauliche Zug καϑεζομένον ἐν
μέσῳ τῶν διδα κάλων, als Diktum war nur das V. 49.
wichtig, zu welchem daher ohne Aufenthalt hingeeilt wird),
ja daſs selbst die zwischen ihm und seiner Mutter gewech-
selten Reden nur fragmentarisch und aphoristisch gegeben
seien (keine Spur einer Lücke); endlich hätte ein Erdich-
ter Jesum anders mit seiner Mutter sprechen lassen, und
ihm nichts in den Mund gelegt, was als Beweis der Un-
ehrerbietigkeit oder Gleichgültigkeit gegen sie ausgelegt wer-
8) Diese Einsicht hat Kaiser, bibl. Theol. 1, 234.
9) Also auch davon nichts, was Hase (Leben Jesu §. 33.) darin
finden will, diese Erzählung, indem sie dieselbe Gottesnähe
zeige, welche die Idee des späteren Lebens Jesu war, sei
eine Andeutung davon, dass seine spätere Herrlichkeit nicht
früheren Verirrungen abgerungen, sondern ununterbrochene
Entwicklung seiner Freiheit gewesen sei.
10) Über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 92.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/316>, abgerufen am 24.11.2024.
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