wenn man nach dieser Ansicht sich von der Unterhaltung Jesu mit den Lehrern im Tempel eine Vorstellung zu bil- den versucht, so kommt sie wenig natürlich heraus. Er soll nicht gelehrt haben, aber auch nicht eigentlich belehrt worden sein, sondern die Reden der Lehrer sollen nur die Veranlassung abgegeben haben, dass er sich selbst belehr- te, dass ihm namentlich über seine eigene Bestimmung ein immer helleres Licht aufgieng. Aber diess wird er dann gewiss auch ausgesprochen haben, so dass doch wieder eine lehrende Stellung des Knaben herauskäme, welche Olshausen selbst als monströs bezeichnet. Wenigstens ein solches indirektes Lehren käme heraus, wie es Hess an- nimmt, wenn er vermuthet, Jesus habe wohl damals schon die ersten Versuche gemacht, die Vorurtheile, welche in den Synagogen herrschten, zu bestreiten, indem er durch ein gutmüthiges Fragen und Erklärungfordern, wie man es der kindlichen Unschuld gern erlaube, den Lehrern An- lass gegeben habe, die Schwäche von manchen ihrer Lehr- sätze einzusehen 19). Aber auch ein solches Auftreten des 12jährigen Knaben ist der wahrhaft menschlichen Entwik- kelung, welche auch der Gottmensch durchgemacht haben soll, nicht angemessen. Dergleichen Reden eines Knaben hätten freilich ein allgemeines Erstaunen der Versammelten erregen müssen: aber eben auch dieser Ausdruck: exisanto pantes oi akouontes autou, sieht einer panegyrischen For- mel gar zu ähnlich.
Es lässt hierauf die Erzählung die vorwurfsvolle Frage der Mutter Jesu an den wiedergefundenen Sohn folgen, warum er den Eltern das Herzeleid dieses kummervollen Suchens nicht erspart habe? worauf er die Antwort giebt, welche eigentlich die Spitze der ganzen Erzählung bildet, ob sie nicht hätten wissen können, dass er nirgends anders, als im Hause seines Vaters, im Tempel, zu suchen sei? (V.
19) Geschichte Jesu, 1, S. 112.
Erster Abschnitt.
wenn man nach dieser Ansicht sich von der Unterhaltung Jesu mit den Lehrern im Tempel eine Vorstellung zu bil- den versucht, so kommt sie wenig natürlich heraus. Er soll nicht gelehrt haben, aber auch nicht eigentlich belehrt worden sein, sondern die Reden der Lehrer sollen nur die Veranlassung abgegeben haben, daſs er sich selbst belehr- te, daſs ihm namentlich über seine eigene Bestimmung ein immer helleres Licht aufgieng. Aber dieſs wird er dann gewiſs auch ausgesprochen haben, so daſs doch wieder eine lehrende Stellung des Knaben herauskäme, welche Olshausen selbst als monströs bezeichnet. Wenigstens ein solches indirektes Lehren käme heraus, wie es Hess an- nimmt, wenn er vermuthet, Jesus habe wohl damals schon die ersten Versuche gemacht, die Vorurtheile, welche in den Synagogen herrschten, zu bestreiten, indem er durch ein gutmüthiges Fragen und Erklärungfordern, wie man es der kindlichen Unschuld gern erlaube, den Lehrern An- laſs gegeben habe, die Schwäche von manchen ihrer Lehr- sätze einzusehen 19). Aber auch ein solches Auftreten des 12jährigen Knaben ist der wahrhaft menschlichen Entwik- kelung, welche auch der Gottmensch durchgemacht haben soll, nicht angemessen. Dergleichen Reden eines Knaben hätten freilich ein allgemeines Erstaunen der Versammelten erregen müssen: aber eben auch dieser Ausdruck: ἐξίςαντο παντες οἱ ακούοντες αὐτοῦ, sieht einer panegyrischen For- mel gar zu ähnlich.
Es läſst hierauf die Erzählung die vorwurfsvolle Frage der Mutter Jesu an den wiedergefundenen Sohn folgen, warum er den Eltern das Herzeleid dieses kummervollen Suchens nicht erspart habe? worauf er die Antwort giebt, welche eigentlich die Spitze der ganzen Erzählung bildet, ob sie nicht hätten wissen können, daſs er nirgends anders, als im Hause seines Vaters, im Tempel, zu suchen sei? (V.
19) Geschichte Jesu, 1, S. 112.
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Erster Abschnitt.
wenn man nach dieser Ansicht sich von der Unterhaltung
Jesu mit den Lehrern im Tempel eine Vorstellung zu bil-
den versucht, so kommt sie wenig natürlich heraus. Er
soll nicht gelehrt haben, aber auch nicht eigentlich belehrt
worden sein, sondern die Reden der Lehrer sollen nur die
Veranlassung abgegeben haben, daſs er sich selbst belehr-
te, daſs ihm namentlich über seine eigene Bestimmung ein
immer helleres Licht aufgieng. Aber dieſs wird er dann
gewiſs auch ausgesprochen haben, so daſs doch wieder
eine lehrende Stellung des Knaben herauskäme, welche
Olshausen selbst als monströs bezeichnet. Wenigstens ein
solches indirektes Lehren käme heraus, wie es Hess an-
nimmt, wenn er vermuthet, Jesus habe wohl damals schon
die ersten Versuche gemacht, die Vorurtheile, welche in
den Synagogen herrschten, zu bestreiten, indem er durch
ein gutmüthiges Fragen und Erklärungfordern, wie man
es der kindlichen Unschuld gern erlaube, den Lehrern An-
laſs gegeben habe, die Schwäche von manchen ihrer Lehr-
sätze einzusehen 19). Aber auch ein solches Auftreten des
12jährigen Knaben ist der wahrhaft menschlichen Entwik-
kelung, welche auch der Gottmensch durchgemacht haben
soll, nicht angemessen. Dergleichen Reden eines Knaben
hätten freilich ein allgemeines Erstaunen der Versammelten
erregen müssen: aber eben auch dieser Ausdruck: ἐξίςαντο
παντες οἱ ακούοντες αὐτοῦ, sieht einer panegyrischen For-
mel gar zu ähnlich.
Es läſst hierauf die Erzählung die vorwurfsvolle Frage
der Mutter Jesu an den wiedergefundenen Sohn folgen,
warum er den Eltern das Herzeleid dieses kummervollen
Suchens nicht erspart habe? worauf er die Antwort giebt,
welche eigentlich die Spitze der ganzen Erzählung bildet,
ob sie nicht hätten wissen können, daſs er nirgends anders,
als im Hause seines Vaters, im Tempel, zu suchen sei? (V.
19) Geschichte Jesu, 1, S. 112.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/308>, abgerufen am 16.07.2024.
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