Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
als der Ort, ou en tethrammenos (Luc. 4, 16.), sondern gera-
dezu auch als seine patris bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc.
6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten
kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen
angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth
den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am
Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh.
19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die
Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und
thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G.
3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit
Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die-
ser Name auf eine ketzerische Sekte über 9). Diese Be-
nennung sezt, wenn auch nicht diess, dass Jesus von Naza-
ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel-
ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher,
da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4,
16 ff. und die Parall.), während seines öffentlichen Lebens
nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine
frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose
seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine
Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge-
wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von
jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine
Wohnortsveränderung anzunehmen: so dass dieser eine der
beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht.

Auch der andere Saz, dass Jesus in Bethlehem gebo-
ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er-
sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten-
stelle veranlassten Erwartung, dass der Messias in Bethle-
hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f.
Joh. 7, 42.). Aber eben diess ist eine gefährliche Stütze,
und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt

9) Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.

Erster Abschnitt.
als der Ort, οὖ ἦν τεϑραμμένος (Luc. 4, 16.), sondern gera-
dezu auch als seine πατρὶς bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc.
6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten
kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen
angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth
den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am
Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh.
19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die
Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und
thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G.
3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit
Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die-
ser Name auf eine ketzerische Sekte über 9). Diese Be-
nennung sezt, wenn auch nicht dieſs, daſs Jesus von Naza-
ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel-
ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher,
da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4,
16 ff. und die Parall.), während seines öffentlichen Lebens
nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine
frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose
seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine
Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge-
wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von
jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine
Wohnortsveränderung anzunehmen: so daſs dieser eine der
beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht.

Auch der andere Saz, daſs Jesus in Bethlehem gebo-
ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er-
sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten-
stelle veranlaſsten Erwartung, daſs der Messias in Bethle-
hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f.
Joh. 7, 42.). Aber eben dieſs ist eine gefährliche Stütze,
und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt

9) Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0298" n="274"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
als der Ort, <foreign xml:lang="ell">&#x03BF;&#x1F56; &#x1F26;&#x03BD; &#x03C4;&#x03B5;&#x03D1;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C2;</foreign> (Luc. 4, 16.), sondern gera-<lb/>
dezu auch als seine <foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03B1;&#x03C4;&#x03C1;&#x1F76;&#x03C2;</foreign> bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc.<lb/>
6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten<lb/>
kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen<lb/>
angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth<lb/>
den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am<lb/>
Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh.<lb/>
19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die<lb/>
Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und<lb/>
thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G.<lb/>
3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit<lb/>
Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die-<lb/>
ser Name auf eine ketzerische Sekte über <note place="foot" n="9)">Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.</note>. Diese Be-<lb/>
nennung sezt, wenn auch nicht die&#x017F;s, da&#x017F;s Jesus von Naza-<lb/>
ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel-<lb/>
ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher,<lb/>
da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4,<lb/>
16 ff. und die Parall.), während seines öffentlichen Lebens<lb/>
nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine<lb/>
frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose<lb/>
seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine<lb/>
Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge-<lb/>
wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von<lb/>
jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine<lb/>
Wohnortsveränderung anzunehmen: so da&#x017F;s dieser eine der<lb/>
beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht.</p><lb/>
            <p>Auch der andere Saz, da&#x017F;s Jesus in Bethlehem gebo-<lb/>
ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er-<lb/>
sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten-<lb/>
stelle veranla&#x017F;sten Erwartung, da&#x017F;s der Messias in Bethle-<lb/>
hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f.<lb/>
Joh. 7, 42.). Aber eben die&#x017F;s ist eine gefährliche Stütze,<lb/>
und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0298] Erster Abschnitt. als der Ort, οὖ ἦν τεϑραμμένος (Luc. 4, 16.), sondern gera- dezu auch als seine πατρὶς bezeichnet (Matth. 13, 54. Marc. 6, 1.); als Jesus der Nazaretaner wird er von den Leuten kenntlich gemacht (Luc. 18, 37.) und von den Dämonen angerufen (Marc. 1, 24.); der galiläische Dialekt verräth den Petrus als seinen Anhänger (Marc. 14, 70.); noch am Kreuze bezeichnet ihn die Überschrift als Nazarener (Joh. 19, 19.), und nach seiner Auferstehung verkündigen die Apostel allenthalben Jesum von Nazaret (A. G. 2, 22.) und thun in seinem Namen als des Nazareners Wunder (A. G. 3, 6.). Auch seine Anhänger wurden noch längere Zeit Nazarener genannt, und erst in späteren Zeiten gieng die- ser Name auf eine ketzerische Sekte über 9). Diese Be- nennung sezt, wenn auch nicht dieſs, daſs Jesus von Naza- ret gebürtig ist, so doch einen längeren Aufenthalt dessel- ben an dem gedachten Orte voraus, ein Aufenthalt, welcher, da sich Jesus, glaubwürdigen Nachrichten zufolge (Luc. 4, 16 ff. und die Parall.), während seines öffentlichen Lebens nur vorübergehend daselbst verweilt hat, einzig in seine frühere Lebensperiode fallen kann, welche er im Schoose seiner Familie verlebte. Diese also und namentlich seine Eltern müssen während der Kindheit Jesu in Nazaret ge- wohnt haben, und wenn einmal, dann ohne Zweifel von jeher, da wir keinen geschichtlichen Grund haben, eine Wohnortsveränderung anzunehmen: so daſs dieser eine der beiden widersprechenden Sätze unerschütterlich feststeht. Auch der andere Saz, daſs Jesus in Bethlehem gebo- ren sei, ruht keineswegs nur auf der Angabe unsrer er- sten Kapitel, sondern zugleich auf der durch eine Propheten- stelle veranlaſsten Erwartung, daſs der Messias in Bethle- hem werde geboren werden (vergl. mit Matth. 2, 5 f. Joh. 7, 42.). Aber eben dieſs ist eine gefährliche Stütze, und derjenige sollte sie gerne missen, welcher Jesu Geburt 9) Tertull. adv. Marcion L. 4. c. 8. Epiphan. haer. 29, 1.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/298
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/298>, abgerufen am 11.05.2024.