sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort, wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund, nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein- mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran- lasst worden war, ein Anlass, welcher nach der Flucht jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den Matthäus mit ihm zu vereinigen. Dass aber die Justinische Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte, ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können, welche von beidem nichts weiss, begreift man nicht, und überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte, anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin- det, da ist gewiss nicht diese das ursprüngliche und jene abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle, Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo- gieen kennen gelernt.
Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem apokryphischen Evangelium de nativitate Mariae gemacht worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei- fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt sie doch, nachdem diess geschehen, zu ihren Eltern nach Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son- dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma-
Erster Abschnitt.
sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort, wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund, nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein- mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran- laſst worden war, ein Anlaſs, welcher nach der Flucht jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den Matthäus mit ihm zu vereinigen. Daſs aber die Justinische Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte, ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können, welche von beidem nichts weiſs, begreift man nicht, und überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte, anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin- det, da ist gewiſs nicht diese das ursprüngliche und jene abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle, Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo- gieen kennen gelernt.
Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem apokryphischen Evangelium de nativitate Mariae gemacht worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei- fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt sie doch, nachdem dieſs geschehen, zu ihren Eltern nach Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son- dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0294"n="270"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort,<lb/>
wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier<lb/>
Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund,<lb/>
nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein-<lb/>
mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu<lb/>
vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin<lb/>
nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort<lb/>
anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran-<lb/>
laſst worden war, ein Anlaſs, welcher nach der Flucht<lb/>
jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr<lb/>
auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den<lb/>
Matthäus mit ihm zu vereinigen. Daſs aber die Justinische<lb/>
Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte,<lb/>
ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe<lb/>
bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und<lb/>
die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem<lb/>
hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können,<lb/>
welche von beidem nichts weiſs, begreift man nicht, und<lb/>
überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte,<lb/>
anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin-<lb/>
det, da ist gewiſs nicht diese das ursprüngliche und jene<lb/>
abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle,<lb/>
Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder<lb/>
seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo-<lb/>
gieen kennen gelernt.</p><lb/><p>Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem<lb/>
apokryphischen <hirendition="#i">Evangelium de nativitate Mariae</hi> gemacht<lb/>
worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei-<lb/>
fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche<lb/>
Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu<lb/>
Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt<lb/>
sie doch, nachdem dieſs geschehen, zu ihren Eltern nach<lb/>
Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig<lb/>
von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son-<lb/>
dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[270/0294]
Erster Abschnitt.
sie hiedurch keineswegs. Denn wenn doch als der Ort,
wo sich Joseph häuslich niedergelassen hatte, auch hier
Nazaret stehen bleibt, so hatte er immer keinen Grund,
nach seiner Rückkehr von der ägyptischen Flucht auf Ein-
mal seinen bisherigen Wohnort mit seinem Geburtsort zu
vertauschen, zumal er auch zu der früheren Reise dahin
nach Justin selbst nicht etwa durch einen Plan, sich dort
anzusiedeln, sondern lediglich durch die Schatzung veran-
laſst worden war, ein Anlaſs, welcher nach der Flucht
jedenfalls fehlte. So steht die Darstellung Justin's mehr
auf der Seite des Lukas, und reicht nicht hin, um den
Matthäus mit ihm zu vereinigen. Daſs aber die Justinische
Nachricht auch die Quelle der beiden unsrigen sein sollte,
ist noch weniger zu glauben. Denn wie aus der Angabe
bei Justin, welche doch schon Nazaret als Wohnort, und
die Schatzung als Veranlassung der Reise nach Bethlehem
hat, die Erzählung des Matthäus habe entstehen können,
welche von beidem nichts weiſs, begreift man nicht, und
überhaupt, wo sich einestheils zwei divergirende Berichte,
anderntheils eine ungenügende Vereinigung derselben fin-
det, da ist gewiſs nicht diese das ursprüngliche und jene
abgeleitet, sondern umgekehrt, und eben in dieser Rolle,
Ausgleichungen zu versuchen, haben wir den Justin oder
seine Quellen schon oben, bei Gelegenheit der Genealo-
gieen kennen gelernt.
Ein nachhaltigerer Ausgleichungsversuch ist in dem
apokryphischen Evangelium de nativitate Mariae gemacht
worden, und hat auch bei neueren Theologen vielen Bei-
fall gefunden. Nach diesem Apokryphum ist das elterliche
Haus der Maria in Nazaret, und obwohl im Tempel zu
Jerusalem erzogen, und dort mit Joseph verlobt, kehrt
sie doch, nachdem dieſs geschehen, zu ihren Eltern nach
Galiläa zurück. Joseph hingegen war nicht blos gebürtig
von Bethlehem, wie Justin sagen zu wollen scheint, son-
dern er hatte auch sein Haus daselbst, und holte die Ma-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/294>, abgerufen am 12.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.