unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange- lium infantiae arabicum als etwas Objektives in die Er- scheinung Jesu 6) -- immer noch mehr im Geiste der ur- sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei- se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält. Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic- ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis- sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, dass es Früch- te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, dass die- ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden wä- re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen zu helfen; wir müssten also diesen Zweck, wie es auch der Evangelist wendet (V. 26. 29.), nur in Simeon und Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn zu Theil geworden wäre, dass ihnen zur Erkenntniss des messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein dass um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer- lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.
Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel an dem historischen Charakter der Erzählung veranlasst finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an lauter mythische Erzählungen anschliesst. Nur muss man dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus- drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich doch so, wie ich diess Kind hier trage, auch den neuge- borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt
6) Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis suis eum gestaret, -- et circumdabant eum angeli instar cir- culi, celebrantes illum etc. Bei Thilo, S. 71.
Erster Abschnitt.
unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange- lium infantiae arabicum als etwas Objektives in die Er- scheinung Jesu 6) — immer noch mehr im Geiste der ur- sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei- se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält. Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic- ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis- sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, daſs es Früch- te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, daſs die- ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden wä- re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen zu helfen; wir müſsten also diesen Zweck, wie es auch der Evangelist wendet (V. 26. 29.), nur in Simeon und Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn zu Theil geworden wäre, daſs ihnen zur Erkenntniſs des messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein daſs um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer- lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.
Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel an dem historischen Charakter der Erzählung veranlaſst finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an lauter mythische Erzählungen anschlieſst. Nur muſs man dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus- drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich doch so, wie ich dieſs Kind hier trage, auch den neuge- borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt
6) Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis suis eum gestaret, — et circumdabant eum angeli instar cir- culi, celebrantes illum etc. Bei Thilo, S. 71.
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Erster Abschnitt.
unser kanonisches Evangelium dasjenige, was Jesum dem
Simeon kenntlich machte, in den Simeon selbst, aber als
übernatürliches Princip, versezt: so legt es das Evange-
lium infantiae arabicum als etwas Objektives in die Er-
scheinung Jesu 6) — immer noch mehr im Geiste der ur-
sprünglichen Erzählung, als die natürliche Erklärungswei-
se, weil es doch das Wunderbare an der Sache festhält.
Haben wir also in jenem dem Simeon verliehenen Seherblic-
ke unserem Text zufolge ein Wunder zu erkennen: so wis-
sen wir von diesem Wunder doch gar nicht, daſs es Früch-
te getragen hätte, indem nirgends eine Spur ist, daſs die-
ser Vorfall aus Jesu Kindheit mit ein Hebel geworden wä-
re, um den Glauben an Jesum als den Messias begründen
zu helfen; wir müſsten also diesen Zweck, wie es auch
der Evangelist wendet (V. 26. 29.), nur in Simeon und
Hanna suchen, deren treuem Hoffen dieser individuelle Lohn
zu Theil geworden wäre, daſs ihnen zur Erkenntniſs des
messianischen Kindes der Blick geöffnet wurde. Allein
daſs um solcher particulärer Zwecke willen die Vorsehung
Wunder geschehen lasse, diese Annahme stimmt schwer-
lich mit richtigen Begriffen von derselben überein.
Man wird sich daher auch hier zu einem Zweifel
an dem historischen Charakter der Erzählung veranlaſst
finden, um so mehr, als sie sich nach dem Bisherigen an
lauter mythische Erzählungen anschlieſst. Nur muſs man
dann nicht dabei stehen bleiben, zu sagen, die wahren Aus-
drücke Simeons mögen wohl gewesen sein: möchte ich
doch so, wie ich dieſs Kind hier trage, auch den neuge-
borenen Messias noch erblicken! was dann ex eventu in
der Sage dahin umgedeutet worden sei, wie wir es jetzt
6) Cap. 6: viditque illum Simeon senex instar columnae lucis
refulgentem, cum Domina Maria virgo, mater ejus, ulnis
suis eum gestaret, — et circumdabant eum angeli instar cir-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/286>, abgerufen am 16.02.2025.
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