man den Contrast nicht treiben, dass man, wie gewöhn- lich geschieht, die Magier das Kind im Stall und in der Krippe finden lässt; denn von diesen dem Lukas eigen- thümlichen Angaben weiss Matthäus nichts, sondern spricht schlechtweg von einer oikia, in welcher das Kind sich be- funden habe. -- Sofort erfolgt die Warnung der Magier im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur wünschen möchten, dass sie früher gekommen wäre, um durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das ganze folgende Blutbad zu ersparen.
Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher- heit zu bringen (V. 13--15.). Diess hat auf dem ange- nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein soll, Hosea 11, 1.: mim'its@rayim qaratiy lib@niy. Denn wenn hier der Prophet Jehova sagen lässt: da Israel ein Knabe war, hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei- nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen, dass hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He- mistichs, nämlich dem Volk Israel, welches hier, wie auch sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22.; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp- ten unter Moses gemeint ist; dass also keineswegs an den Mes- sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe- ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei desswegen ver- anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür- den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan- den, mithin missverstanden. Die Olshausen'sche Doppel-
Viertes Kapitel. §. 30.
man den Contrast nicht treiben, daſs man, wie gewöhn- lich geschieht, die Magier das Kind im Stall und in der Krippe finden läſst; denn von diesen dem Lukas eigen- thümlichen Angaben weiſs Matthäus nichts, sondern spricht schlechtweg von einer οἰκία, in welcher das Kind sich be- funden habe. — Sofort erfolgt die Warnung der Magier im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur wünschen möchten, daſs sie früher gekommen wäre, um durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das ganze folgende Blutbad zu ersparen.
Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher- heit zu bringen (V. 13—15.). Dieſs hat auf dem ange- nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein soll, Hosea 11, 1.: מִמִּצְרַיִם קָרָאתִי לִבְנִי. Denn wenn hier der Prophet Jehova sagen läſst: da Israël ein Knabe war, hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei- nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen, daſs hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He- mistichs, nämlich dem Volk Israël, welches hier, wie auch sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22.; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp- ten unter Moses gemeint ist; daſs also keineswegs an den Mes- sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe- ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei deſswegen ver- anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür- den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan- den, mithin miſsverstanden. Die Olshausen'sche Doppel-
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Viertes Kapitel. §. 30.
man den Contrast nicht treiben, daſs man, wie gewöhn-
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Krippe finden läſst; denn von diesen dem Lukas eigen-
thümlichen Angaben weiſs Matthäus nichts, sondern spricht
schlechtweg von einer οἰκία, in welcher das Kind sich be-
funden habe. — Sofort erfolgt die Warnung der Magier
im Traum (V. 12.), von welcher wir, wie gesagt, nur
wünschen möchten, daſs sie früher gekommen wäre, um
durch Ablenkung der Magier von Jerusalem vielleicht das
ganze folgende Blutbad zu ersparen.
Während nun Herodes noch auf die Rückkehr der
Astrologen wartet, wird Joseph im Traume durch eine
Engelerscheinung angewiesen, das messianische Kind sammt
dessen Mutter nach dem benachbarten Ägypten in Sicher-
heit zu bringen (V. 13—15.). Dieſs hat auf dem ange-
nommenen Standpunkt keine Schwierigkeit, wohl aber die
Weissagung, welche dadurch in Erfüllung gegangen sein
soll, Hosea 11, 1.: מִמִּצְרַיִם קָרָאתִי לִבְנִי. Denn wenn hier
der Prophet Jehova sagen läſst: da Israël ein Knabe war,
hatte ich ihn lieb, und aus Ägypten rief ich (ihn,) mei-
nen Sohn: so darf auch dem orthodoxesten Erklärer noch
so viel gesunder Blick zugemuthet werden, um einzusehen,
daſs hier im zweiten Hemistich nicht von einem andern
Subjekte die Rede sein könne, als von dem des ersten He-
mistichs, nämlich dem Volk Israël, welches hier, wie auch
sonst (z. B. 2. Mos. 4, 22.; Sirach 36, 14.), Sohn Gottes
genannt, und dessen langvergangene Ausführung aus Ägyp-
ten unter Moses gemeint ist; daſs also keineswegs an den Mes-
sias und dessen künftigen Aufenthalt in Ägypten vom Prophe-
ten gedacht worden sei. Und doch, indem unser Evangelist
V. 15. sagt, die Flucht Jesu nach Ägypten sei deſswegen ver-
anstaltet worden, damit jene Worte des Hosea erfüllt wür-
den: so hat er diese als Weissagung auf Christus verstan-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/255>, abgerufen am 22.11.2024.
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