Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Viertes Kapitel. §. 29. den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her-beigeführt haben würde: so beweist diess nur, dass Schleier- macher den Begriff derjenigen Poesie, welche hauptsäch- lich hieher gehört, nämlich der Poesie der Sage, nicht ge- hörig erfasst hat. Die Sagenpoesie ist mit Einem Worte eine objektive Poesie, welche das Dichterische ganz in die erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergiessungen erschei- nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu- that einer subjektiven, mehr bewusst und künstlerisch aus- geübten Poesie sind. Allerdings also haben wir, wie es scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur- sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um- arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber von historischer Wahrheit ist desswegen dennoch hier eben- sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er- zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge. Dass er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will, obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re- den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht, als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück- sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo- sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er- zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder- kindes berichtet, dass er, wenn Joseph von seinen vorbe- deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn desswegen beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu dem Ausserordentlichen, was sich mit ihrem Kinde zu- trug, hier und unten 2, 51. die schickliche Stellung, dass Viertes Kapitel. §. 29. den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her-beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs Schleier- macher den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch- lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge- hörig erfaſst hat. Die Sagenpoësie ist mit Einem Worte eine objektive Poësie, welche das Dichterische ganz in die erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergieſsungen erschei- nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu- that einer subjektiven, mehr bewuſst und künstlerisch aus- geübten Poësie sind. Allerdings also haben wir, wie es scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur- sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um- arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber von historischer Wahrheit ist deſswegen dennoch hier eben- sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er- zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge. Daſs er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will, obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re- den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht, als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück- sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo- sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er- zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder- kindes berichtet, daſs er, wenn Joseph von seinen vorbe- deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn deſswegen beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu dem Ausserordentlichen, was sich mit ihrem Kinde zu- trug, hier und unten 2, 51. die schickliche Stellung, daſs <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0241" n="217"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>. §. 29.</fw><lb/> den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her-<lb/> beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs <hi rendition="#k">Schleier-<lb/> macher</hi> den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch-<lb/> lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge-<lb/> hörig erfaſst hat. 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Viertes Kapitel. §. 29.
den dürfe, indem dieses nothwendig mehr Lyrisches her-
beigeführt haben würde: so beweist dieſs nur, daſs Schleier-
macher den Begriff derjenigen Poësie, welche hauptsäch-
lich hieher gehört, nämlich der Poësie der Sage, nicht ge-
hörig erfaſst hat. Die Sagenpoësie ist mit Einem Worte
eine objektive Poësie, welche das Dichterische ganz in die
erzählte Materie hineinlegt, und daher in ganz schlichter
Form, ohne allen Aufwand lyrischer Ergieſsungen erschei-
nen kann, welche lezteren vielmehr nur die spätere Zu-
that einer subjektiven, mehr bewuſst und künstlerisch aus-
geübten Poësie sind. Allerdings also haben wir, wie es
scheint, diese jezt folgenden Abschnitte mehr in der ur-
sprünglichen Form der Sage, während die Erzählungen
des ersten Kapitels bei Lukas mehr das Gepräge der Um-
arbeitung durch ein dichtendes Individuum tragen; aber
von historischer Wahrheit ist deſswegen dennoch hier eben-
sowenig als dort etwas zu suchen. Daher kann es auch
nur als Spiel eines luxurirenden Scharfsinns angesehen
werden, wenn Schleiermacher weiterhin sogar die Quelle
auszumitteln sich anheischig macht, aus welcher diese Er-
zählung in das Lukasevangelium gekommen sein möge.
Daſs er als diese Quelle nicht die Maria annehmen will,
obgleich in der Bemerkung V. 19., sie habe alle diese Re-
den im Herzen bewahrt, eine Berufung auf sie gefunden
werden könnte, daran hat er zwar um so mehr Recht,
als jene Bemerkung (worauf Schleiermacher keine Rück-
sicht nimmt), nur eine aus der Geschichte Jakobs und Jo-
sephs herübergenommene Phrase ist. Wie nämlich die Er-
zählung der Genesis von Jakob als Vater jenes Wunder-
kindes berichtet, daſs er, wenn Joseph von seinen vorbe-
deutenden Träumen erzählte und die Brüder ihn deſswegen
beneideten, dessen Reden nachdenklich im Herzen bewahrt
habe: so giebt nun die Erzählung bei Lukas der Maria zu
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