Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Erstes Kapitel. §. 15. liche Ursache verliert: so kehren hier alle die Schwierig-keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz kommt, dass man bei einmal betretenem mythischen Stand- punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei- behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi- schen Sagenpoesie, dass von diesem Zuge am wenigsten der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver- worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von Bauer gemacht! Man habe, sagt er 2), im jüdischen Gei- ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden grosse Männer; Johannes war von alten Eltern da und wurde ein angesehener Lehrer der Busse: folglich glaubte man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt. Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet sich der Schluss ohne alle Schwierigkeit. Von grossen Män- nern, lautet er nun, nahm man gerne an, dass sie Spätge- borene seien 3), und ihre, menschlicherweise nicht mehr 2) a. a. O. S. 221. 3) Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae; bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo 1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne- ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus -- heisst es hier -- cum alicujus uterum claudit, ad hoc facit, ut mirabilius denuo aperiat, et non libidinis esse, quod nascitur, sed divini muneris cog- 7*
Erstes Kapitel. §. 15. liche Ursache verliert: so kehren hier alle die Schwierig-keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz kommt, daſs man bei einmal betretenem mythischen Stand- punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei- behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi- schen Sagenpoësie, daſs von diesem Zuge am wenigsten der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver- worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von Bauer gemacht! Man habe, sagt er 2), im jüdischen Gei- ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden groſse Männer; Johannes war von alten Eltern da und wurde ein angesehener Lehrer der Buſse: folglich glaubte man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt. Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet sich der Schluſs ohne alle Schwierigkeit. Von groſsen Män- nern, lautet er nun, nahm man gerne an, daſs sie Spätge- borene seien 3), und ihre, menschlicherweise nicht mehr 2) a. a. O. S. 221. 3) Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae; bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo 1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne- ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus — heisst es hier — cum alicujus uterum claudit, ad hoc facit, ut mirabilius denuo aperiat, et non libidinis esse, quod nascitur, sed divini muneris cog- 7*
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Erstes Kapitel. §. 15.
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keiten zurück, welche an der natürlichen Deutung in's
Licht gestellt worden sind; wozu noch die Inconsequenz
kommt, daſs man bei einmal betretenem mythischen Stand-
punkt gar nicht nöthig hat, sich in diese Verlegenheit zu
begeben, da man ja nicht mehr durch die Voraussetzung
historischer Treue der Berichte an Festhaltung derselben
gebunden ist. Das Andre aber, was als geschichtlich bei-
behalten wird, die lange Kinderlosigkeit der Eltern des
Täufers, ist so ganz im Geist und Interesse der hebräi-
schen Sagenpoësie, daſs von diesem Zuge am wenigsten
der mythische Ursprung verkannt werden sollte. Wie ver-
worren hat dieses Verkennen z. B. das Räsonnement von
Bauer gemacht! Man habe, sagt er 2), im jüdischen Gei-
ste so geschlossen: Alle nach langer Unfruchtbarkeit im
vorgerückten Alter der Eltern gebornen Kinder werden
groſse Männer; Johannes war von alten Eltern da und
wurde ein angesehener Lehrer der Buſse: folglich glaubte
man berechtigt zu sein, seine Geburt durch einen Engel
ankündigen zu lassen. Welch ein Ungethüm von einem
Schlusse, und das aus keinem andern Grunde, als weil er
das Spätgeborensein des Johannes als gegeben voraussezt.
Man mache es zu etwas erst Erschlossenem: so gestaltet
sich der Schluſs ohne alle Schwierigkeit. Von groſsen Män-
nern, lautet er nun, nahm man gerne an, daſs sie Spätge-
borene seien 3), und ihre, menschlicherweise nicht mehr
2) a. a. O. S. 221.
3) Warum man dies annahm, erklärt am besten eine, für diese
Materie classische Stelle im Evangelium de nativitate Mariae;
bei Fabricius codex apocryphus N. Ti 1, p. 22 f., bei Thilo
1, p. 322, welche zugleich einen Katalog der ausgezeichne-
ten Spätgebornen aus der jüdischen Geschichte enthält. Deus
— heisst es hier — cum alicujus uterum claudit, ad hoc
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