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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei, wie
ihn nur die Todesangst einer Menschenkehle zu
entreißen pflegt; einen Augenblick war Alles, auch
der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur
ein Arbeiter hatte gleich einem Wegweiser seinen
Arm gestreckt; der wies nach der Nordwestecke der
beiden Deiche, dort wo der neue auf den alten stieß.
Nur das Tosen des Sturmes und das Rauschen
des Wassers war zu hören. Hauke drehte sich im
Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden
groß: "Herr Gott! Ein Bruch! Ein Bruch im
alten Deich!"

"Euere Schuld, Deichgraf!" schrie eine Stimme
aus dem Haufen: "Euere Schuld! Nehmt's mit
vor Gottes Thron!"

Hauke's zornrothes Antlitz war todtenbleich
geworden; der Mond, der es beschien, konnte es
nicht bleicher machen; seine Arme hingen schlaff,
er wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber
auch das war nur ein Augenblick; schon richtete
er sich auf, ein hartes Stöhnen brach aus seinem
Munde; dann wandte er stumm sein Pferd, und
der Schimmel schnob und ras'te ostwärts auf dem
Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen

Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei, wie
ihn nur die Todesangſt einer Menſchenkehle zu
entreißen pflegt; einen Augenblick war Alles, auch
der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur
ein Arbeiter hatte gleich einem Wegweiſer ſeinen
Arm geſtreckt; der wies nach der Nordweſtecke der
beiden Deiche, dort wo der neue auf den alten ſtieß.
Nur das Toſen des Sturmes und das Rauſchen
des Waſſers war zu hören. Hauke drehte ſich im
Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden
groß: „Herr Gott! Ein Bruch! Ein Bruch im
alten Deich!”

„Euere Schuld, Deichgraf!” ſchrie eine Stimme
aus dem Haufen: „Euere Schuld! Nehmt's mit
vor Gottes Thron!”

Hauke's zornrothes Antlitz war todtenbleich
geworden; der Mond, der es beſchien, konnte es
nicht bleicher machen; ſeine Arme hingen ſchlaff,
er wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber
auch das war nur ein Augenblick; ſchon richtete
er ſich auf, ein hartes Stöhnen brach aus ſeinem
Munde; dann wandte er ſtumm ſein Pferd, und
der Schimmel ſchnob und raſ'te oſtwärts auf dem
Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen

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[213/0225] Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei, wie ihn nur die Todesangſt einer Menſchenkehle zu entreißen pflegt; einen Augenblick war Alles, auch der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur ein Arbeiter hatte gleich einem Wegweiſer ſeinen Arm geſtreckt; der wies nach der Nordweſtecke der beiden Deiche, dort wo der neue auf den alten ſtieß. Nur das Toſen des Sturmes und das Rauſchen des Waſſers war zu hören. Hauke drehte ſich im Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden groß: „Herr Gott! Ein Bruch! Ein Bruch im alten Deich!” „Euere Schuld, Deichgraf!” ſchrie eine Stimme aus dem Haufen: „Euere Schuld! Nehmt's mit vor Gottes Thron!” Hauke's zornrothes Antlitz war todtenbleich geworden; der Mond, der es beſchien, konnte es nicht bleicher machen; ſeine Arme hingen ſchlaff, er wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber auch das war nur ein Augenblick; ſchon richtete er ſich auf, ein hartes Stöhnen brach aus ſeinem Munde; dann wandte er ſtumm ſein Pferd, und der Schimmel ſchnob und raſ'te oſtwärts auf dem Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/225>, abgerufen am 25.11.2024.