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Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. Berlin, 1887.

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Kindes, das schon mit dem Schlafe kämpfte, und sah starr auf das liebliche Gesichtlein; aber so still er saß, er wußte vor Angst nicht, wo er mit seinen Gedanken bleiben sollte. Da, als das Kind die Augen zu ihm aufschlug, brach es aus ihm hervor: "Christine!" aber er stockte einen Augenblick; "Christine", sagte er nochmals, "könntest Du wohl betteln?"

"Betteln!" Das Kind erschrak über das Wort. "Betteln, Vater?" wiederholte sie; "wie meinst Du?" Die Kinderaugen waren plötzlich erregt auf ihn gerichtet.

"Ich meine", sagte er langsam aber deutlich, "zu fremden Leuten gehen und sie um einen Sechsling oder noch weniger um einen Dreiling bitten, oder um ein Stück Brot."

Dem Kinde stürzten die Thränen aus den Augen. "Vater, warum fragst Du so? Du sagtest immer, betteln sei eine Schande!"

"Es kann auch kommen, daß Schande noch nicht das Schlimmste ist. - Nein, nein!" rief er dann laut und riß sie heftig in seine Arme. "Weine nicht, o weine nicht so, mein Kind! Du sollst nicht

Kindes, das schon mit dem Schlafe kämpfte, und sah starr auf das liebliche Gesichtlein; aber so still er saß, er wußte vor Angst nicht, wo er mit seinen Gedanken bleiben sollte. Da, als das Kind die Augen zu ihm aufschlug, brach es aus ihm hervor: „Christine!“ aber er stockte einen Augenblick; „Christine“, sagte er nochmals, „könntest Du wohl betteln?“

„Betteln!“ Das Kind erschrak über das Wort. „Betteln, Vater?“ wiederholte sie; „wie meinst Du?“ Die Kinderaugen waren plötzlich erregt auf ihn gerichtet.

„Ich meine“, sagte er langsam aber deutlich, „zu fremden Leuten gehen und sie um einen Sechsling oder noch weniger um einen Dreiling bitten, oder um ein Stück Brot.“

Dem Kinde stürzten die Thränen aus den Augen. „Vater, warum fragst Du so? Du sagtest immer, betteln sei eine Schande!“

„Es kann auch kommen, daß Schande noch nicht das Schlimmste ist. – Nein, nein!“ rief er dann laut und riß sie heftig in seine Arme. „Weine nicht, o weine nicht so, mein Kind! Du sollst nicht

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[107/0107] Kindes, das schon mit dem Schlafe kämpfte, und sah starr auf das liebliche Gesichtlein; aber so still er saß, er wußte vor Angst nicht, wo er mit seinen Gedanken bleiben sollte. Da, als das Kind die Augen zu ihm aufschlug, brach es aus ihm hervor: „Christine!“ aber er stockte einen Augenblick; „Christine“, sagte er nochmals, „könntest Du wohl betteln?“ „Betteln!“ Das Kind erschrak über das Wort. „Betteln, Vater?“ wiederholte sie; „wie meinst Du?“ Die Kinderaugen waren plötzlich erregt auf ihn gerichtet. „Ich meine“, sagte er langsam aber deutlich, „zu fremden Leuten gehen und sie um einen Sechsling oder noch weniger um einen Dreiling bitten, oder um ein Stück Brot.“ Dem Kinde stürzten die Thränen aus den Augen. „Vater, warum fragst Du so? Du sagtest immer, betteln sei eine Schande!“ „Es kann auch kommen, daß Schande noch nicht das Schlimmste ist. – Nein, nein!“ rief er dann laut und riß sie heftig in seine Arme. „Weine nicht, o weine nicht so, mein Kind! Du sollst nicht

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. Berlin, 1887, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_doppelgaenger_1887/107>, abgerufen am 24.11.2024.