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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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jenen, und wenn hie und da zu Gunsten der
einen oder andern Parthey eine Ausnahme ge-
macht wird, hört man darüber keine beleidi-
gende Klagen. So angenehm es den Russen
ist, wenn sie einen Ausländer ihre Sprache
reden hören, so gefällig sind sie doch auch ge-
gen Jeden der sie nicht versteht, so bereitwil-
lig ihm auszuhelfen, sich ihm verständlich zu
machen, selbst in Fällen wo ihr eignes In-
teresse oder die Pflicht des Fremden zu einer
strengern Forderung berechtigen könnte.

Die gesellschaftliche Duldung ist
im vorigen Abschnitte hinlänglich karakterisirt,
um ihren Umfang beurtheilen zu können. Eben
die große Mischung von Menschen, die es hier
verhindert, daß das Publikum keinen sehr aus-
gezeichneten, eigenthümlichen Geist hat, ist
auch die wohlthätige Ursache, daß wir hier
keine allgemeine Norm, kein Modell, wenn
ich so sagen darf, für unser sittliches Betragen
haben. Jeder kann hier so erscheinen wie er
ist; sehr excentrische Menschen freylich erregen
auch hier einige Bemerkung, aber ihrer giebt
es immer nur wenige und in kurzer Zeit wird
man ihrer gewohnt. Wer nicht zu dieser

jenen, und wenn hie und da zu Gunſten der
einen oder andern Parthey eine Ausnahme ge-
macht wird, hoͤrt man daruͤber keine beleidi-
gende Klagen. So angenehm es den Ruſſen
iſt, wenn ſie einen Auslaͤnder ihre Sprache
reden hoͤren, ſo gefaͤllig ſind ſie doch auch ge-
gen Jeden der ſie nicht verſteht, ſo bereitwil-
lig ihm auszuhelfen, ſich ihm verſtaͤndlich zu
machen, ſelbſt in Faͤllen wo ihr eignes In-
tereſſe oder die Pflicht des Fremden zu einer
ſtrengern Forderung berechtigen koͤnnte.

Die geſellſchaftliche Duldung iſt
im vorigen Abſchnitte hinlaͤnglich karakteriſirt,
um ihren Umfang beurtheilen zu koͤnnen. Eben
die große Miſchung von Menſchen, die es hier
verhindert, daß das Publikum keinen ſehr aus-
gezeichneten, eigenthuͤmlichen Geiſt hat, iſt
auch die wohlthaͤtige Urſache, daß wir hier
keine allgemeine Norm, kein Modell, wenn
ich ſo ſagen darf, fuͤr unſer ſittliches Betragen
haben. Jeder kann hier ſo erſcheinen wie er
iſt; ſehr excentriſche Menſchen freylich erregen
auch hier einige Bemerkung, aber ihrer giebt
es immer nur wenige und in kurzer Zeit wird
man ihrer gewohnt. Wer nicht zu dieſer

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[511/0529] jenen, und wenn hie und da zu Gunſten der einen oder andern Parthey eine Ausnahme ge- macht wird, hoͤrt man daruͤber keine beleidi- gende Klagen. So angenehm es den Ruſſen iſt, wenn ſie einen Auslaͤnder ihre Sprache reden hoͤren, ſo gefaͤllig ſind ſie doch auch ge- gen Jeden der ſie nicht verſteht, ſo bereitwil- lig ihm auszuhelfen, ſich ihm verſtaͤndlich zu machen, ſelbſt in Faͤllen wo ihr eignes In- tereſſe oder die Pflicht des Fremden zu einer ſtrengern Forderung berechtigen koͤnnte. Die geſellſchaftliche Duldung iſt im vorigen Abſchnitte hinlaͤnglich karakteriſirt, um ihren Umfang beurtheilen zu koͤnnen. Eben die große Miſchung von Menſchen, die es hier verhindert, daß das Publikum keinen ſehr aus- gezeichneten, eigenthuͤmlichen Geiſt hat, iſt auch die wohlthaͤtige Urſache, daß wir hier keine allgemeine Norm, kein Modell, wenn ich ſo ſagen darf, fuͤr unſer ſittliches Betragen haben. Jeder kann hier ſo erſcheinen wie er iſt; ſehr excentriſche Menſchen freylich erregen auch hier einige Bemerkung, aber ihrer giebt es immer nur wenige und in kurzer Zeit wird man ihrer gewohnt. Wer nicht zu dieſer

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/529>, abgerufen am 03.05.2024.