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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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verschließt. Eben die Zurückhaltung der man
sich selbst unterwirft, wird auch gegen Andere
beobachtet. Die mindeste Neugier, das Ver-
hältniß und die Lage seiner Bekannten von
ihnen selbst zu erforschen, würde indiskret seyn
und hieße gegen die Gesetze des guten Tons
fehlen. Hieraus erklärt sich die große Unem-
pfindlichkeit, die man so durchgängig bey den
Abwechselungen des Schicksals seiner Freunde
und Bekannten äußert. Ununterrichtet von
dem Gewebe widriger Vorfälle, durch welches
man sie plötzlich vor seinen Augen verstrickt
sieht, kann ihr Schicksal nur jene Theilnahme
erregen, welche aus dem allgemeinen Wohl-
wollen oder aus dem Interesse entspringt, das
der Unglückliche als Mensch, als Gesellschafter
einzuflößen wußte. Zuweilen giebt selbst die
Blutsverwandtschaft keine hinlänglichen An-
sprüche auf eine höhere und thätige Theilnah-
me; ein Fall der jedoch unter den Russen bey
weitem seltner als unter den Ausländern vor-
zukommen pflegt. -- Wie sich aber überall
Extreme in der moralischen Welt begegnen, so
auch hier. Wo die Freundschaft einmal Wur-
zel gefaßt hat, da äußert sie sich oft in un-

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verſchließt. Eben die Zuruͤckhaltung der man
ſich ſelbſt unterwirft, wird auch gegen Andere
beobachtet. Die mindeſte Neugier, das Ver-
haͤltniß und die Lage ſeiner Bekannten von
ihnen ſelbſt zu erforſchen, wuͤrde indiskret ſeyn
und hieße gegen die Geſetze des guten Tons
fehlen. Hieraus erklaͤrt ſich die große Unem-
pfindlichkeit, die man ſo durchgaͤngig bey den
Abwechſelungen des Schickſals ſeiner Freunde
und Bekannten aͤußert. Ununterrichtet von
dem Gewebe widriger Vorfaͤlle, durch welches
man ſie ploͤtzlich vor ſeinen Augen verſtrickt
ſieht, kann ihr Schickſal nur jene Theilnahme
erregen, welche aus dem allgemeinen Wohl-
wollen oder aus dem Intereſſe entſpringt, das
der Ungluͤckliche als Menſch, als Geſellſchafter
einzufloͤßen wußte. Zuweilen giebt ſelbſt die
Blutsverwandtſchaft keine hinlaͤnglichen An-
ſpruͤche auf eine hoͤhere und thaͤtige Theilnah-
me; ein Fall der jedoch unter den Ruſſen bey
weitem ſeltner als unter den Auslaͤndern vor-
zukommen pflegt. — Wie ſich aber uͤberall
Extreme in der moraliſchen Welt begegnen, ſo
auch hier. Wo die Freundſchaft einmal Wur-
zel gefaßt hat, da aͤußert ſie ſich oft in un-

G g 2
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[467/0485] verſchließt. Eben die Zuruͤckhaltung der man ſich ſelbſt unterwirft, wird auch gegen Andere beobachtet. Die mindeſte Neugier, das Ver- haͤltniß und die Lage ſeiner Bekannten von ihnen ſelbſt zu erforſchen, wuͤrde indiskret ſeyn und hieße gegen die Geſetze des guten Tons fehlen. Hieraus erklaͤrt ſich die große Unem- pfindlichkeit, die man ſo durchgaͤngig bey den Abwechſelungen des Schickſals ſeiner Freunde und Bekannten aͤußert. Ununterrichtet von dem Gewebe widriger Vorfaͤlle, durch welches man ſie ploͤtzlich vor ſeinen Augen verſtrickt ſieht, kann ihr Schickſal nur jene Theilnahme erregen, welche aus dem allgemeinen Wohl- wollen oder aus dem Intereſſe entſpringt, das der Ungluͤckliche als Menſch, als Geſellſchafter einzufloͤßen wußte. Zuweilen giebt ſelbſt die Blutsverwandtſchaft keine hinlaͤnglichen An- ſpruͤche auf eine hoͤhere und thaͤtige Theilnah- me; ein Fall der jedoch unter den Ruſſen bey weitem ſeltner als unter den Auslaͤndern vor- zukommen pflegt. — Wie ſich aber uͤberall Extreme in der moraliſchen Welt begegnen, ſo auch hier. Wo die Freundſchaft einmal Wur- zel gefaßt hat, da aͤußert ſie ſich oft in un- G g 2

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/485>, abgerufen am 23.11.2024.