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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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Es giebt eine Gattung von Leuten, die ihre
stärkere Individualität in den flachen Karak-
teren der Alltagsmenschen wie in einem Hohl-
spiegel vergrößert erblicken. Diese sind nicht
für Petersburg, und Petersburg ist nicht für
sie. Dennoch stehen sie unter dem Schutz der
allgemeinen Toleranz, die Jedem seine Eigen-
heiten verzeiht, so lange sie der Gesellschaft
nicht lästig werden. Leben sie isolirt, so ver-
gißt man ihrer; erscheinen sie wieder auf dem
Schauplatz, so wird ihnen Niemand die Frage
entgegen tragen: was haben Sie so lange ge-
macht?

Menschen, denen der tägliche Lebensgang
des großen Haufens anekelt, die in den ge-
wöhnlichen Zerstreuungen und Unterhaltungen
keine Ressource für ihre edlere Genußfähigkeit
finden, sehen sich hier auf einem Platz wo jeder
Augenblick die Scene verändert, wo jeder Tag
neue Erscheinungen auf die Bühne bringt,
wo die moralischen Karrikaturen sich so schnell
verdrängen, daß der Blick des Beobachters
ihnen kaum von ferne nachfolgen kann. Das
große Buch der Erfahrung liegt offen da; es
bedarf nur der Mühe, die Blätter umzuwen-

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Es giebt eine Gattung von Leuten, die ihre
ſtaͤrkere Individualitaͤt in den flachen Karak-
teren der Alltagsmenſchen wie in einem Hohl-
ſpiegel vergroͤßert erblicken. Dieſe ſind nicht
fuͤr Petersburg, und Petersburg iſt nicht fuͤr
ſie. Dennoch ſtehen ſie unter dem Schutz der
allgemeinen Toleranz, die Jedem ſeine Eigen-
heiten verzeiht, ſo lange ſie der Geſellſchaft
nicht laͤſtig werden. Leben ſie iſolirt, ſo ver-
gißt man ihrer; erſcheinen ſie wieder auf dem
Schauplatz, ſo wird ihnen Niemand die Frage
entgegen tragen: was haben Sie ſo lange ge-
macht?

Menſchen, denen der taͤgliche Lebensgang
des großen Haufens anekelt, die in den ge-
woͤhnlichen Zerſtreuungen und Unterhaltungen
keine Reſſource fuͤr ihre edlere Genußfaͤhigkeit
finden, ſehen ſich hier auf einem Platz wo jeder
Augenblick die Scene veraͤndert, wo jeder Tag
neue Erſcheinungen auf die Buͤhne bringt,
wo die moraliſchen Karrikaturen ſich ſo ſchnell
verdraͤngen, daß der Blick des Beobachters
ihnen kaum von ferne nachfolgen kann. Das
große Buch der Erfahrung liegt offen da; es
bedarf nur der Muͤhe, die Blaͤtter umzuwen-

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[455/0473] Es giebt eine Gattung von Leuten, die ihre ſtaͤrkere Individualitaͤt in den flachen Karak- teren der Alltagsmenſchen wie in einem Hohl- ſpiegel vergroͤßert erblicken. Dieſe ſind nicht fuͤr Petersburg, und Petersburg iſt nicht fuͤr ſie. Dennoch ſtehen ſie unter dem Schutz der allgemeinen Toleranz, die Jedem ſeine Eigen- heiten verzeiht, ſo lange ſie der Geſellſchaft nicht laͤſtig werden. Leben ſie iſolirt, ſo ver- gißt man ihrer; erſcheinen ſie wieder auf dem Schauplatz, ſo wird ihnen Niemand die Frage entgegen tragen: was haben Sie ſo lange ge- macht? Menſchen, denen der taͤgliche Lebensgang des großen Haufens anekelt, die in den ge- woͤhnlichen Zerſtreuungen und Unterhaltungen keine Reſſource fuͤr ihre edlere Genußfaͤhigkeit finden, ſehen ſich hier auf einem Platz wo jeder Augenblick die Scene veraͤndert, wo jeder Tag neue Erſcheinungen auf die Buͤhne bringt, wo die moraliſchen Karrikaturen ſich ſo ſchnell verdraͤngen, daß der Blick des Beobachters ihnen kaum von ferne nachfolgen kann. Das große Buch der Erfahrung liegt offen da; es bedarf nur der Muͤhe, die Blaͤtter umzuwen- F f 4

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/473>, abgerufen am 23.11.2024.