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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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lichen und ausdrucksvollen Mimik errathen.
Die sichtbare Verfeinerung des Geschmacks,
das Beyspiel anderer Nationen, der Unterricht
den angehende Künstler in den dazu bestimm-
ten Schulen erhalten, die Kultur die sie sich
auf Reisen in fremden Ländern erwerben: alle
diese Hülfsmittel treffen hier zusammen, um
die glücklichen Dispositionen der Natur zu ent-
wickeln und zur Reife zu bringen. Unter sol-
chen Begünstigungen ist es zu erwarten, daß
das russische Theater sich über das Mittelmä-
ßige erheben und seines Zwecks nicht verfeh-
len kann, ein anziehender und befriedigender
Genuß für die feinsten und gebildetsten Klas-
sen der Nation zu seyn

Das russische Trauerspiel hat, sowol der
Form als dem Inhalt nach, einen französi-
schen Zuschnitt erhalten. Der gegründete
Ruhm dieses Theaters und das Zeitalter in
welchem die russische Bühne ihre Muster such-
te und fand, rechtfertigen eine Nachahmung,
die in Deutschland, gewiß immer nicht ohne
Grund, aber doch vielleicht etwas zu voreilig
verworfen wurde. Die Manier des Dichters
und des Schauspielers ist französisch; jene fes-

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lichen und ausdrucksvollen Mimik errathen.
Die ſichtbare Verfeinerung des Geſchmacks,
das Beyſpiel anderer Nationen, der Unterricht
den angehende Kuͤnſtler in den dazu beſtimm-
ten Schulen erhalten, die Kultur die ſie ſich
auf Reiſen in fremden Laͤndern erwerben: alle
dieſe Huͤlfsmittel treffen hier zuſammen, um
die gluͤcklichen Dispoſitionen der Natur zu ent-
wickeln und zur Reife zu bringen. Unter ſol-
chen Beguͤnſtigungen iſt es zu erwarten, daß
das ruſſiſche Theater ſich uͤber das Mittelmaͤ-
ßige erheben und ſeines Zwecks nicht verfeh-
len kann, ein anziehender und befriedigender
Genuß fuͤr die feinſten und gebildetſten Klaſ-
ſen der Nation zu ſeyn

Das ruſſiſche Trauerſpiel hat, ſowol der
Form als dem Inhalt nach, einen franzoͤſi-
ſchen Zuſchnitt erhalten. Der gegruͤndete
Ruhm dieſes Theaters und das Zeitalter in
welchem die ruſſiſche Buͤhne ihre Muſter ſuch-
te und fand, rechtfertigen eine Nachahmung,
die in Deutſchland, gewiß immer nicht ohne
Grund, aber doch vielleicht etwas zu voreilig
verworfen wurde. Die Manier des Dichters
und des Schauſpielers iſt franzoͤſiſch; jene feſ-

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[329/0347] lichen und ausdrucksvollen Mimik errathen. Die ſichtbare Verfeinerung des Geſchmacks, das Beyſpiel anderer Nationen, der Unterricht den angehende Kuͤnſtler in den dazu beſtimm- ten Schulen erhalten, die Kultur die ſie ſich auf Reiſen in fremden Laͤndern erwerben: alle dieſe Huͤlfsmittel treffen hier zuſammen, um die gluͤcklichen Dispoſitionen der Natur zu ent- wickeln und zur Reife zu bringen. Unter ſol- chen Beguͤnſtigungen iſt es zu erwarten, daß das ruſſiſche Theater ſich uͤber das Mittelmaͤ- ßige erheben und ſeines Zwecks nicht verfeh- len kann, ein anziehender und befriedigender Genuß fuͤr die feinſten und gebildetſten Klaſ- ſen der Nation zu ſeyn Das ruſſiſche Trauerſpiel hat, ſowol der Form als dem Inhalt nach, einen franzoͤſi- ſchen Zuſchnitt erhalten. Der gegruͤndete Ruhm dieſes Theaters und das Zeitalter in welchem die ruſſiſche Buͤhne ihre Muſter ſuch- te und fand, rechtfertigen eine Nachahmung, die in Deutſchland, gewiß immer nicht ohne Grund, aber doch vielleicht etwas zu voreilig verworfen wurde. Die Manier des Dichters und des Schauſpielers iſt franzoͤſiſch; jene feſ- X 5

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/347>, abgerufen am 23.11.2024.