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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Die ausgebildete Gewohnheit der Chinesen hat für alle Vor¬
fälle gesorgt, und für Alles ist "vorgesehen"; was auch kom¬
men mag, es weiß der Chinese immer, wie er sich zu verhalten
hat, und er braucht sich nicht erst nach den Umständen zu be¬
stimmen: aus dem Himmel seiner Ruhe stürzt ihn kein unvor¬
hergesehener Fall. Der sittlich eingewohnte und eingelebte
Chinese wird nicht überrascht und überrumpelt: er verhält sich
gegen Alles gleichmüthig, d. h. mit gleichem Muthe oder Ge¬
müthe, weil sein Gemüth, durch die Vorsicht seiner altherge¬
brachten Sitte geschützt, nicht außer Fassung kommt. Auf der
Stufenleiter der Bildung oder Cultur besteigt die Menschheit
mithin durch die Gewohnheit die erste Sprosse, und da sie
sich vorstellt, im Erklimmen der Cultur zugleich den Himmel,
das Reich der Cultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, so
besteigt sie wirklich die erste Sprosse der -- Himmelsleiter.

Hat das Mongolenthum das Dasein geistiger Wesen fest¬
gestellt, eine Geisterwelt, einen Himmel geschaffen, so haben
die Caucasier Jahrtausende mit diesen geistigen Wesen gerun¬
gen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was thaten sie
also anders, als daß sie auf mongolischem Grund bauten? Sie
haben nicht auf Sand, sondern in der Luft gebaut, haben mit
dem Mongolischen gerungen, den mongolischen Himmel, den
Thiän, gestürmt. Wann werden sie diesen Himmel endlich
vernichten? Wann werden sie endlich wirkliche Caucasier
werden und sich selber finden? Wann wird die "Unsterblich¬
keit der Seele", die sich in letzterer Zeit noch mehr zu sichern
glaubte, wenn sie sich als "Unsterblichkeit des Geistes" prä¬
sentirte, endlich in die Sterblichkeit des Geistes um¬
schlagen?

Im industriösen Ringen der mongolischen Race hatten die

Die ausgebildete Gewohnheit der Chineſen hat für alle Vor¬
fälle geſorgt, und für Alles iſt „vorgeſehen“; was auch kom¬
men mag, es weiß der Chineſe immer, wie er ſich zu verhalten
hat, und er braucht ſich nicht erſt nach den Umſtänden zu be¬
ſtimmen: aus dem Himmel ſeiner Ruhe ſtürzt ihn kein unvor¬
hergeſehener Fall. Der ſittlich eingewohnte und eingelebte
Chineſe wird nicht überraſcht und überrumpelt: er verhält ſich
gegen Alles gleichmüthig, d. h. mit gleichem Muthe oder Ge¬
müthe, weil ſein Gemüth, durch die Vorſicht ſeiner altherge¬
brachten Sitte geſchützt, nicht außer Faſſung kommt. Auf der
Stufenleiter der Bildung oder Cultur beſteigt die Menſchheit
mithin durch die Gewohnheit die erſte Sproſſe, und da ſie
ſich vorſtellt, im Erklimmen der Cultur zugleich den Himmel,
das Reich der Cultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, ſo
beſteigt ſie wirklich die erſte Sproſſe der — Himmelsleiter.

Hat das Mongolenthum das Daſein geiſtiger Weſen feſt¬
geſtellt, eine Geiſterwelt, einen Himmel geſchaffen, ſo haben
die Caucaſier Jahrtauſende mit dieſen geiſtigen Weſen gerun¬
gen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was thaten ſie
alſo anders, als daß ſie auf mongoliſchem Grund bauten? Sie
haben nicht auf Sand, ſondern in der Luft gebaut, haben mit
dem Mongoliſchen gerungen, den mongoliſchen Himmel, den
Thiän, geſtürmt. Wann werden ſie dieſen Himmel endlich
vernichten? Wann werden ſie endlich wirkliche Caucaſier
werden und ſich ſelber finden? Wann wird die „Unſterblich¬
keit der Seele“, die ſich in letzterer Zeit noch mehr zu ſichern
glaubte, wenn ſie ſich als „Unſterblichkeit des Geiſtes“ prä¬
ſentirte, endlich in die Sterblichkeit des Geiſtes um¬
ſchlagen?

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[90/0098] Die ausgebildete Gewohnheit der Chineſen hat für alle Vor¬ fälle geſorgt, und für Alles iſt „vorgeſehen“; was auch kom¬ men mag, es weiß der Chineſe immer, wie er ſich zu verhalten hat, und er braucht ſich nicht erſt nach den Umſtänden zu be¬ ſtimmen: aus dem Himmel ſeiner Ruhe ſtürzt ihn kein unvor¬ hergeſehener Fall. Der ſittlich eingewohnte und eingelebte Chineſe wird nicht überraſcht und überrumpelt: er verhält ſich gegen Alles gleichmüthig, d. h. mit gleichem Muthe oder Ge¬ müthe, weil ſein Gemüth, durch die Vorſicht ſeiner altherge¬ brachten Sitte geſchützt, nicht außer Faſſung kommt. Auf der Stufenleiter der Bildung oder Cultur beſteigt die Menſchheit mithin durch die Gewohnheit die erſte Sproſſe, und da ſie ſich vorſtellt, im Erklimmen der Cultur zugleich den Himmel, das Reich der Cultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, ſo beſteigt ſie wirklich die erſte Sproſſe der — Himmelsleiter. Hat das Mongolenthum das Daſein geiſtiger Weſen feſt¬ geſtellt, eine Geiſterwelt, einen Himmel geſchaffen, ſo haben die Caucaſier Jahrtauſende mit dieſen geiſtigen Weſen gerun¬ gen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was thaten ſie alſo anders, als daß ſie auf mongoliſchem Grund bauten? Sie haben nicht auf Sand, ſondern in der Luft gebaut, haben mit dem Mongoliſchen gerungen, den mongoliſchen Himmel, den Thiän, geſtürmt. Wann werden ſie dieſen Himmel endlich vernichten? Wann werden ſie endlich wirkliche Caucaſier werden und ſich ſelber finden? Wann wird die „Unſterblich¬ keit der Seele“, die ſich in letzterer Zeit noch mehr zu ſichern glaubte, wenn ſie ſich als „Unſterblichkeit des Geiſtes“ prä¬ ſentirte, endlich in die Sterblichkeit des Geiſtes um¬ ſchlagen? Im induſtriöſen Ringen der mongoliſchen Race hatten die

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/98>, abgerufen am 19.04.2024.