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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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wohnheit der Entsagung die Hitze Deines Verlangens und die
Rosen Deiner Jugend erblassen in der -- Bleichsucht Deiner
Seligkeit. Die Seele ist gerettet, der Leib mag verderben!
O Lais, o Ninon, wie thatet Ihr wohl, diese bleiche Tugend
zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen tausend in der
Tugend grau gewordene Jungfern!

Auch als "Grundsatz, Princip, Standpunkt" u. dergl.
läßt sich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen
Standpunkt außerhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach
diesem Standpunkte suchten fortwährend die Menschen, und
Jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde
Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedan¬
ken, Begriffe, Wesen u. s. w.; es ist der Himmel. Der
Himmel ist der "Standpunkt", von welchem aus die Erde be¬
wegt, das irdische Treiben überschaut und -- verachtet wird.
Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest
und auf ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich
rang darnach die Menschheit.

Es hat das Christenthum dahin gezielt, Uns von der
Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Be¬
gierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, daß der
Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin
liegt nicht, daß er keine Begierden haben solle, sondern daß
die Begierden ihn nicht haben sollen, daß sie nicht fix, unbe¬
zwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun das Chri¬
stenthum (die Religion) gegen die Begierden machinirte, könnten
Wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, daß Uns der Geist
(Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube u. s. w.) bestimmen
solle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geist oder
die Vorstellung, die Idee Uns nicht bestimmen, nicht fix und

wohnheit der Entſagung die Hitze Deines Verlangens und die
Roſen Deiner Jugend erblaſſen in der — Bleichſucht Deiner
Seligkeit. Die Seele iſt gerettet, der Leib mag verderben!
O Lais, o Ninon, wie thatet Ihr wohl, dieſe bleiche Tugend
zu verſchmähen. Eine freie Griſette gegen tauſend in der
Tugend grau gewordene Jungfern!

Auch als „Grundſatz, Princip, Standpunkt“ u. dergl.
läßt ſich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen
Standpunkt außerhalb der Erde, um ſie zu bewegen. Nach
dieſem Standpunkte ſuchten fortwährend die Menſchen, und
Jeder nahm ihn ein, ſo gut er vermochte. Dieſer fremde
Standpunkt iſt die Welt des Geiſtes, der Ideen, Gedan¬
ken, Begriffe, Weſen u. ſ. w.; es iſt der Himmel. Der
Himmel iſt der „Standpunkt“, von welchem aus die Erde be¬
wegt, das irdiſche Treiben überſchaut und — verachtet wird.
Sich den Himmel zu ſichern, den himmliſchen Standpunkt feſt
und auf ewig einzunehmen, wie ſchmerzlich und unermüdlich
rang darnach die Menſchheit.

Es hat das Chriſtenthum dahin gezielt, Uns von der
Naturbeſtimmung (Beſtimmung durch die Natur), von den Be¬
gierden als antreibend, zu erlöſen, mithin gewollt, daß der
Menſch ſich nicht von ſeinen Begierden beſtimmen laſſe. Darin
liegt nicht, daß er keine Begierden haben ſolle, ſondern daß
die Begierden ihn nicht haben ſollen, daß ſie nicht fix, unbe¬
zwinglich, unauflöslich werden ſollen. Was nun das Chri¬
ſtenthum (die Religion) gegen die Begierden machinirte, könnten
Wir das nicht auf ſeine eigene Vorſchrift, daß Uns der Geiſt
(Gedanke, Vorſtellungen, Ideen, Glaube u. ſ. w.) beſtimmen
ſolle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geiſt oder
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[82/0090] wohnheit der Entſagung die Hitze Deines Verlangens und die Roſen Deiner Jugend erblaſſen in der — Bleichſucht Deiner Seligkeit. Die Seele iſt gerettet, der Leib mag verderben! O Lais, o Ninon, wie thatet Ihr wohl, dieſe bleiche Tugend zu verſchmähen. Eine freie Griſette gegen tauſend in der Tugend grau gewordene Jungfern! Auch als „Grundſatz, Princip, Standpunkt“ u. dergl. läßt ſich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen Standpunkt außerhalb der Erde, um ſie zu bewegen. Nach dieſem Standpunkte ſuchten fortwährend die Menſchen, und Jeder nahm ihn ein, ſo gut er vermochte. Dieſer fremde Standpunkt iſt die Welt des Geiſtes, der Ideen, Gedan¬ ken, Begriffe, Weſen u. ſ. w.; es iſt der Himmel. Der Himmel iſt der „Standpunkt“, von welchem aus die Erde be¬ wegt, das irdiſche Treiben überſchaut und — verachtet wird. Sich den Himmel zu ſichern, den himmliſchen Standpunkt feſt und auf ewig einzunehmen, wie ſchmerzlich und unermüdlich rang darnach die Menſchheit. Es hat das Chriſtenthum dahin gezielt, Uns von der Naturbeſtimmung (Beſtimmung durch die Natur), von den Be¬ gierden als antreibend, zu erlöſen, mithin gewollt, daß der Menſch ſich nicht von ſeinen Begierden beſtimmen laſſe. Darin liegt nicht, daß er keine Begierden haben ſolle, ſondern daß die Begierden ihn nicht haben ſollen, daß ſie nicht fix, unbe¬ zwinglich, unauflöslich werden ſollen. Was nun das Chri¬ ſtenthum (die Religion) gegen die Begierden machinirte, könnten Wir das nicht auf ſeine eigene Vorſchrift, daß Uns der Geiſt (Gedanke, Vorſtellungen, Ideen, Glaube u. ſ. w.) beſtimmen ſolle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geiſt oder die Vorſtellung, die Idee Uns nicht beſtimmen, nicht fix und

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/90>, abgerufen am 25.04.2024.