Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

fanatischste, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn frostig
kalt, ungläubig und sein unversöhnlichster Feind; Ich bleibe sein
Richter, weil Ich sein Eigenthümer bin.

Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, so weit die Besessen¬
heit reicht, gleich sehr aus Teufelsbesitzungen wie auf denen
eines guten Geistes: dort Laster, Narrheit u. s. w.; hier De¬
muth, Hingebung u. s. w.

Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbstver¬
leugnung zu begegnen? Da sitzt Mir gegenüber ein Mädchen,
das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer
bringt. Ueber der üppigen Gestalt neigt sich ein todtmüdes
Haupt, und bleiche Wangen verrathen die langsame Verblu¬
tung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leiden¬
schaften an Dein Herz geschlagen, und die reichen Jugend¬
kräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt sich in
die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur
durch Deine Glieder, spannte das Blut Deine Adern, und
gossen feurige Phantasien den Glanz der Wollust in Deine
Augen. Da erschien das Gespenst der Seele und ihrer Se¬
ligkeit. Du erschrakst, Deine Hände falteten sich, Dein ge¬
quältes Auge richtete den Blick nach oben, Du -- betetest.
Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über
den Ocean Deiner Begierden. Langsam senkten sich die matten
Augenlider über das unter ihnen erloschene Leben, aus den
strotzenden Gliedern schlich unvermerkt die Spannung, in dem
Herzen versiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände
selbst lasteten entkräftet auf dem widerstandlosen Busen, ein
leises, letztes Ach stöhnte noch nach, und -- die Seele war
ruhig
. Du entschliefst, um am Morgen zu neuem Kampfe
zu erwachen und zu neuem -- Gebete. Jetzt kühlt die Ge¬

6

fanatiſchſte, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn froſtig
kalt, ungläubig und ſein unverſöhnlichſter Feind; Ich bleibe ſein
Richter, weil Ich ſein Eigenthümer bin.

Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, ſo weit die Beſeſſen¬
heit reicht, gleich ſehr aus Teufelsbeſitzungen wie auf denen
eines guten Geiſtes: dort Laſter, Narrheit u. ſ. w.; hier De¬
muth, Hingebung u. ſ. w.

Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbſtver¬
leugnung zu begegnen? Da ſitzt Mir gegenüber ein Mädchen,
das vielleicht ſchon ſeit zehn Jahren ſeiner Seele blutige Opfer
bringt. Ueber der üppigen Geſtalt neigt ſich ein todtmüdes
Haupt, und bleiche Wangen verrathen die langſame Verblu¬
tung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leiden¬
ſchaften an Dein Herz geſchlagen, und die reichen Jugend¬
kräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt ſich in
die weichen Kiſſen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur
durch Deine Glieder, ſpannte das Blut Deine Adern, und
goſſen feurige Phantaſien den Glanz der Wolluſt in Deine
Augen. Da erſchien das Geſpenſt der Seele und ihrer Se¬
ligkeit. Du erſchrakſt, Deine Hände falteten ſich, Dein ge¬
quältes Auge richtete den Blick nach oben, Du — beteteſt.
Die Stürme der Natur verſtummten, Meeresſtille glitt hin über
den Ocean Deiner Begierden. Langſam ſenkten ſich die matten
Augenlider über das unter ihnen erloſchene Leben, aus den
ſtrotzenden Gliedern ſchlich unvermerkt die Spannung, in dem
Herzen verſiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände
ſelbſt laſteten entkräftet auf dem widerſtandloſen Buſen, ein
leiſes, letztes Ach ſtöhnte noch nach, und — die Seele war
ruhig
. Du entſchliefſt, um am Morgen zu neuem Kampfe
zu erwachen und zu neuem — Gebete. Jetzt kühlt die Ge¬

6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0089" n="81"/>
fanati&#x017F;ch&#x017F;te, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn fro&#x017F;tig<lb/>
kalt, ungläubig und &#x017F;ein unver&#x017F;öhnlich&#x017F;ter Feind; Ich bleibe &#x017F;ein<lb/><hi rendition="#g">Richter</hi>, weil Ich &#x017F;ein Eigenthümer bin.</p><lb/>
                <p>Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, &#x017F;o weit die Be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
heit reicht, gleich &#x017F;ehr aus Teufelsbe&#x017F;itzungen wie auf denen<lb/>
eines guten Gei&#x017F;tes: dort La&#x017F;ter, Narrheit u. &#x017F;. w.; hier De¬<lb/>
muth, Hingebung u. &#x017F;. w.</p><lb/>
                <p>Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selb&#x017F;tver¬<lb/>
leugnung zu begegnen? Da &#x017F;itzt Mir gegenüber ein Mädchen,<lb/>
das vielleicht &#x017F;chon &#x017F;eit zehn Jahren &#x017F;einer Seele blutige Opfer<lb/>
bringt. Ueber der üppigen Ge&#x017F;talt neigt &#x017F;ich ein todtmüdes<lb/>
Haupt, und bleiche Wangen verrathen die lang&#x017F;ame Verblu¬<lb/>
tung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leiden¬<lb/>
&#x017F;chaften an Dein Herz ge&#x017F;chlagen, und die reichen Jugend¬<lb/>
kräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt &#x017F;ich in<lb/>
die weichen Ki&#x017F;&#x017F;en wühlte, wie zuckte die erwachende Natur<lb/>
durch Deine Glieder, &#x017F;pannte das Blut Deine Adern, und<lb/>
go&#x017F;&#x017F;en feurige Phanta&#x017F;ien den Glanz der Wollu&#x017F;t in Deine<lb/>
Augen. Da er&#x017F;chien das Ge&#x017F;pen&#x017F;t der Seele und ihrer Se¬<lb/>
ligkeit. Du er&#x017F;chrak&#x017F;t, Deine Hände falteten &#x017F;ich, Dein ge¬<lb/>
quältes Auge richtete den Blick nach oben, Du &#x2014; betete&#x017F;t.<lb/>
Die Stürme der Natur ver&#x017F;tummten, Meeres&#x017F;tille glitt hin über<lb/>
den Ocean Deiner Begierden. Lang&#x017F;am &#x017F;enkten &#x017F;ich die matten<lb/>
Augenlider über das unter ihnen erlo&#x017F;chene Leben, aus den<lb/>
&#x017F;trotzenden Gliedern &#x017F;chlich unvermerkt die Spannung, in dem<lb/>
Herzen ver&#x017F;iegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t la&#x017F;teten entkräftet auf dem wider&#x017F;tandlo&#x017F;en Bu&#x017F;en, ein<lb/>
lei&#x017F;es, letztes Ach &#x017F;töhnte noch nach, und &#x2014; die <hi rendition="#g">Seele war<lb/>
ruhig</hi>. Du ent&#x017F;chlief&#x017F;t, um am Morgen zu neuem Kampfe<lb/>
zu erwachen und zu neuem &#x2014; Gebete. Jetzt kühlt die Ge¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6<lb/></fw>
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0089] fanatiſchſte, aber Ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn froſtig kalt, ungläubig und ſein unverſöhnlichſter Feind; Ich bleibe ſein Richter, weil Ich ſein Eigenthümer bin. Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, ſo weit die Beſeſſen¬ heit reicht, gleich ſehr aus Teufelsbeſitzungen wie auf denen eines guten Geiſtes: dort Laſter, Narrheit u. ſ. w.; hier De¬ muth, Hingebung u. ſ. w. Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbſtver¬ leugnung zu begegnen? Da ſitzt Mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht ſchon ſeit zehn Jahren ſeiner Seele blutige Opfer bringt. Ueber der üppigen Geſtalt neigt ſich ein todtmüdes Haupt, und bleiche Wangen verrathen die langſame Verblu¬ tung ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leiden¬ ſchaften an Dein Herz geſchlagen, und die reichen Jugend¬ kräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn Dein Haupt ſich in die weichen Kiſſen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur durch Deine Glieder, ſpannte das Blut Deine Adern, und goſſen feurige Phantaſien den Glanz der Wolluſt in Deine Augen. Da erſchien das Geſpenſt der Seele und ihrer Se¬ ligkeit. Du erſchrakſt, Deine Hände falteten ſich, Dein ge¬ quältes Auge richtete den Blick nach oben, Du — beteteſt. Die Stürme der Natur verſtummten, Meeresſtille glitt hin über den Ocean Deiner Begierden. Langſam ſenkten ſich die matten Augenlider über das unter ihnen erloſchene Leben, aus den ſtrotzenden Gliedern ſchlich unvermerkt die Spannung, in dem Herzen verſiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände ſelbſt laſteten entkräftet auf dem widerſtandloſen Buſen, ein leiſes, letztes Ach ſtöhnte noch nach, und — die Seele war ruhig. Du entſchliefſt, um am Morgen zu neuem Kampfe zu erwachen und zu neuem — Gebete. Jetzt kühlt die Ge¬ 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/89
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/89>, abgerufen am 24.11.2024.