Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

trifft Alle, die der scheidenden Geschichtsperiode angehören, selbst
ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein
Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer bes¬
seren Welt, von einem allgemeinen Menschenglück, kurz ein
Ideal. Aber namentlich die Philosophen werden den From¬
men gegenübergestellt. Nun, haben die an etwas anderes ge¬
dacht, als an das Ideal, auf etwas anderes gesonnen, als
auf das absolute Ich? Sehnsucht und Hoffnung überall, und
nichts als diese. Nennt es meinetwegen Romantik.

Soll der Lebensgenuß über die Lebenssehnsucht
oder Lebenshoffnung triumphiren, so muß er sie in ihrer dop¬
pelten Bedeutung, die Schiller im "Ideal und das Leben"
vorführt, bezwingen, die geistliche und weltliche Armuth ecra¬
siren, das Ideal vertilgen und -- die Noth ums tägliche Brot.
Wer sein Leben aufwenden muß, um das Leben zu fristen, der
kann es nicht genießen, und wer sein Leben erst sucht, der hat
es nicht und kann es ebenso wenig genießen: beide sind arm,
"selig aber sind die Armen."

Die da hungem nach dem wahren Leben, haben keine
Macht über ihr gegenwärtiges, sondern müssen es zu dem
Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und
müssen es ganz diesem Trachten und dieser Ausgabe opfern.
Wenn an jenen Religiösen, die auf ein jenseitiges Leben hof¬
fen und das diesseitige bloß für eine Vorbereitung zu demsel¬
ben ansehen, die Dienstbarkeit ihres irdischen Daseins, das sie
lediglich in den Dienst des gehofften himmlischen geben, ziem¬
lich scharf einleuchtet, so würde man doch. weit fehl greifen,
wollte man die Aufgeklärtesten und Erleuchtetsten für minder
aufopfernd halten. Läßt doch im "wahren Leben" eine viel
umfassendere Bedeutung sich finden, als das "himmlische" aus¬

trifft Alle, die der ſcheidenden Geſchichtsperiode angehören, ſelbſt
ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein
Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer beſ¬
ſeren Welt, von einem allgemeinen Menſchenglück, kurz ein
Ideal. Aber namentlich die Philoſophen werden den From¬
men gegenübergeſtellt. Nun, haben die an etwas anderes ge¬
dacht, als an das Ideal, auf etwas anderes geſonnen, als
auf das abſolute Ich? Sehnſucht und Hoffnung überall, und
nichts als dieſe. Nennt es meinetwegen Romantik.

Soll der Lebensgenuß über die Lebensſehnſucht
oder Lebenshoffnung triumphiren, ſo muß er ſie in ihrer dop¬
pelten Bedeutung, die Schiller im „Ideal und das Leben“
vorführt, bezwingen, die geiſtliche und weltliche Armuth ecra¬
ſiren, das Ideal vertilgen und — die Noth ums tägliche Brot.
Wer ſein Leben aufwenden muß, um das Leben zu friſten, der
kann es nicht genießen, und wer ſein Leben erſt ſucht, der hat
es nicht und kann es ebenſo wenig genießen: beide ſind arm,
„ſelig aber ſind die Armen.“

Die da hungem nach dem wahren Leben, haben keine
Macht über ihr gegenwärtiges, ſondern müſſen es zu dem
Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und
müſſen es ganz dieſem Trachten und dieſer Ausgabe opfern.
Wenn an jenen Religiöſen, die auf ein jenſeitiges Leben hof¬
fen und das dieſſeitige bloß für eine Vorbereitung zu demſel¬
ben anſehen, die Dienſtbarkeit ihres irdiſchen Daſeins, das ſie
lediglich in den Dienſt des gehofften himmliſchen geben, ziem¬
lich ſcharf einleuchtet, ſo würde man doch. weit fehl greifen,
wollte man die Aufgeklärteſten und Erleuchtetſten für minder
aufopfernd halten. Läßt doch im „wahren Leben“ eine viel
umfaſſendere Bedeutung ſich finden, als das „himmliſche“ aus¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0437" n="429"/>
trifft Alle, die der &#x017F;cheidenden Ge&#x017F;chichtsperiode angehören, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein<lb/>
Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer be&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;eren Welt, von einem allgemeinen Men&#x017F;chenglück, kurz ein<lb/>
Ideal. Aber namentlich die Philo&#x017F;ophen werden den From¬<lb/>
men gegenüberge&#x017F;tellt. Nun, haben die an etwas anderes ge¬<lb/>
dacht, als an das Ideal, auf etwas anderes ge&#x017F;onnen, als<lb/>
auf das ab&#x017F;olute Ich? Sehn&#x017F;ucht und Hoffnung überall, und<lb/>
nichts als die&#x017F;e. Nennt es meinetwegen Romantik.</p><lb/>
            <p>Soll der <hi rendition="#g">Lebensgenuß</hi> über die <hi rendition="#g">Lebens&#x017F;ehn&#x017F;ucht</hi><lb/>
oder Lebenshoffnung triumphiren, &#x017F;o muß er &#x017F;ie in ihrer dop¬<lb/>
pelten Bedeutung, die Schiller im &#x201E;Ideal und das Leben&#x201C;<lb/>
vorführt, bezwingen, die gei&#x017F;tliche und weltliche Armuth ecra¬<lb/>
&#x017F;iren, das Ideal vertilgen und &#x2014; die Noth ums tägliche Brot.<lb/>
Wer &#x017F;ein Leben aufwenden muß, um das Leben zu fri&#x017F;ten, der<lb/>
kann es nicht genießen, und wer &#x017F;ein Leben er&#x017F;t &#x017F;ucht, der hat<lb/>
es nicht und kann es eben&#x017F;o wenig genießen: beide &#x017F;ind arm,<lb/>
&#x201E;&#x017F;elig aber &#x017F;ind die Armen.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Die da hungem nach dem wahren Leben, haben keine<lb/>
Macht über ihr gegenwärtiges, &#x017F;ondern mü&#x017F;&#x017F;en es zu dem<lb/>
Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und<lb/>&#x017F;&#x017F;en es ganz die&#x017F;em Trachten und die&#x017F;er Ausgabe opfern.<lb/>
Wenn an jenen Religiö&#x017F;en, die auf ein jen&#x017F;eitiges Leben hof¬<lb/>
fen und das die&#x017F;&#x017F;eitige bloß für eine Vorbereitung zu dem&#x017F;el¬<lb/>
ben an&#x017F;ehen, die Dien&#x017F;tbarkeit ihres irdi&#x017F;chen Da&#x017F;eins, das &#x017F;ie<lb/>
lediglich in den Dien&#x017F;t des gehofften himmli&#x017F;chen geben, ziem¬<lb/>
lich &#x017F;charf einleuchtet, &#x017F;o würde man doch. weit fehl greifen,<lb/>
wollte man die Aufgeklärte&#x017F;ten und Erleuchtet&#x017F;ten für minder<lb/>
aufopfernd halten. Läßt doch im &#x201E;wahren Leben&#x201C; eine viel<lb/>
umfa&#x017F;&#x017F;endere Bedeutung &#x017F;ich finden, als das &#x201E;himmli&#x017F;che&#x201C; aus¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[429/0437] trifft Alle, die der ſcheidenden Geſchichtsperiode angehören, ſelbſt ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer beſ¬ ſeren Welt, von einem allgemeinen Menſchenglück, kurz ein Ideal. Aber namentlich die Philoſophen werden den From¬ men gegenübergeſtellt. Nun, haben die an etwas anderes ge¬ dacht, als an das Ideal, auf etwas anderes geſonnen, als auf das abſolute Ich? Sehnſucht und Hoffnung überall, und nichts als dieſe. Nennt es meinetwegen Romantik. Soll der Lebensgenuß über die Lebensſehnſucht oder Lebenshoffnung triumphiren, ſo muß er ſie in ihrer dop¬ pelten Bedeutung, die Schiller im „Ideal und das Leben“ vorführt, bezwingen, die geiſtliche und weltliche Armuth ecra¬ ſiren, das Ideal vertilgen und — die Noth ums tägliche Brot. Wer ſein Leben aufwenden muß, um das Leben zu friſten, der kann es nicht genießen, und wer ſein Leben erſt ſucht, der hat es nicht und kann es ebenſo wenig genießen: beide ſind arm, „ſelig aber ſind die Armen.“ Die da hungem nach dem wahren Leben, haben keine Macht über ihr gegenwärtiges, ſondern müſſen es zu dem Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und müſſen es ganz dieſem Trachten und dieſer Ausgabe opfern. Wenn an jenen Religiöſen, die auf ein jenſeitiges Leben hof¬ fen und das dieſſeitige bloß für eine Vorbereitung zu demſel¬ ben anſehen, die Dienſtbarkeit ihres irdiſchen Daſeins, das ſie lediglich in den Dienſt des gehofften himmliſchen geben, ziem¬ lich ſcharf einleuchtet, ſo würde man doch. weit fehl greifen, wollte man die Aufgeklärteſten und Erleuchtetſten für minder aufopfernd halten. Läßt doch im „wahren Leben“ eine viel umfaſſendere Bedeutung ſich finden, als das „himmliſche“ aus¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/437
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/437>, abgerufen am 23.11.2024.