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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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"Herrlichkeit" (Doxa), denn der Mensch oder die Menschheit ist
der Zweck des Einzelnen, für den er arbeitet, denkt, lebt, und
zu dessen Verherrlichung er "Mensch" werden muß.

Die Menschen haben bisher immer gestrebt, eine Gemein¬
schaft ausfindig zu machen, worin ihre sonstigen Ungleichheiten
"unwesentlich" würden; sie strebten nach Ausgleichung, mithin
nach Gleichheit, und wollten Alle unter Einen Hut kom¬
men, was nichts Geringeres bedeutet, als daß sie Einen Herrn
suchten, Ein Band, Einen Glauben ("Wir glauben all' an
Einen Gott"). Etwas Gemeinschaftlicheres oder Gleicheres
kann es für die Menschen nicht geben, als den Menschen
selbst, und in dieser Gemeinschaft hat der Liebesdrang seine
Befriedigung gefunden: er rastete nicht, bis er diese letzte Aus¬
gleichung herbeigeführt, alle Ungleichheit geebnet, den Menschen
dem Menschen an die Brust gelegt hatte. Gerade unter dieser
Gemeinschaft aber wird der Verfall und das Zerfallen am
schreiendsten. Bei einer beschränkteren Gemeinschaft stand noch
der Franzose gegen den Deutschen, der Christ gegen den Mu¬
hamedaner u. s. w. Jetzt hingegen steht der Mensch gegen
die Menschen, oder, da die Menschen nicht der Mensch sind,
so steht der Mensch gegen den Unmenschen.

Dem Satze: "Gott ist Mensch geworden" folgt nun der
andere: "der Mensch ist Ich geworden". Dieß ist das
menschliche Ich
. Wir aber kehren's um und sagen: Ich
habe Mich nicht finden können, so lange Ich Mich als Men¬
schen suchte. Nun sich aber zeigt, daß der Mensch darnach
trachtet, Ich zu werden und in Mir eine Leibhaftigkeit zu ge¬
winnen, merke Ich wohl, daß doch Alles auf Mich ankommt,
und der Mensch ohne Mich verloren ist. Ich mag aber nicht
zum Schrein dieses Allerheiligsten Mich hingeben und werde

„Herrlichkeit“ (Doxa), denn der Menſch oder die Menſchheit iſt
der Zweck des Einzelnen, für den er arbeitet, denkt, lebt, und
zu deſſen Verherrlichung er „Menſch“ werden muß.

Die Menſchen haben bisher immer geſtrebt, eine Gemein¬
ſchaft ausfindig zu machen, worin ihre ſonſtigen Ungleichheiten
„unweſentlich“ würden; ſie ſtrebten nach Ausgleichung, mithin
nach Gleichheit, und wollten Alle unter Einen Hut kom¬
men, was nichts Geringeres bedeutet, als daß ſie Einen Herrn
ſuchten, Ein Band, Einen Glauben („Wir glauben all' an
Einen Gott“). Etwas Gemeinſchaftlicheres oder Gleicheres
kann es für die Menſchen nicht geben, als den Menſchen
ſelbſt, und in dieſer Gemeinſchaft hat der Liebesdrang ſeine
Befriedigung gefunden: er raſtete nicht, bis er dieſe letzte Aus¬
gleichung herbeigeführt, alle Ungleichheit geebnet, den Menſchen
dem Menſchen an die Bruſt gelegt hatte. Gerade unter dieſer
Gemeinſchaft aber wird der Verfall und das Zerfallen am
ſchreiendſten. Bei einer beſchränkteren Gemeinſchaft ſtand noch
der Franzoſe gegen den Deutſchen, der Chriſt gegen den Mu¬
hamedaner u. ſ. w. Jetzt hingegen ſteht der Menſch gegen
die Menſchen, oder, da die Menſchen nicht der Menſch ſind,
ſo ſteht der Menſch gegen den Unmenſchen.

Dem Satze: „Gott iſt Menſch geworden“ folgt nun der
andere: „der Menſch iſt Ich geworden“. Dieß iſt das
menſchliche Ich
. Wir aber kehren's um und ſagen: Ich
habe Mich nicht finden können, ſo lange Ich Mich als Men¬
ſchen ſuchte. Nun ſich aber zeigt, daß der Menſch darnach
trachtet, Ich zu werden und in Mir eine Leibhaftigkeit zu ge¬
winnen, merke Ich wohl, daß doch Alles auf Mich ankommt,
und der Menſch ohne Mich verloren iſt. Ich mag aber nicht
zum Schrein dieſes Allerheiligſten Mich hingeben und werde

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[182/0190] „Herrlichkeit“ (Doxa), denn der Menſch oder die Menſchheit iſt der Zweck des Einzelnen, für den er arbeitet, denkt, lebt, und zu deſſen Verherrlichung er „Menſch“ werden muß. Die Menſchen haben bisher immer geſtrebt, eine Gemein¬ ſchaft ausfindig zu machen, worin ihre ſonſtigen Ungleichheiten „unweſentlich“ würden; ſie ſtrebten nach Ausgleichung, mithin nach Gleichheit, und wollten Alle unter Einen Hut kom¬ men, was nichts Geringeres bedeutet, als daß ſie Einen Herrn ſuchten, Ein Band, Einen Glauben („Wir glauben all' an Einen Gott“). Etwas Gemeinſchaftlicheres oder Gleicheres kann es für die Menſchen nicht geben, als den Menſchen ſelbſt, und in dieſer Gemeinſchaft hat der Liebesdrang ſeine Befriedigung gefunden: er raſtete nicht, bis er dieſe letzte Aus¬ gleichung herbeigeführt, alle Ungleichheit geebnet, den Menſchen dem Menſchen an die Bruſt gelegt hatte. Gerade unter dieſer Gemeinſchaft aber wird der Verfall und das Zerfallen am ſchreiendſten. Bei einer beſchränkteren Gemeinſchaft ſtand noch der Franzoſe gegen den Deutſchen, der Chriſt gegen den Mu¬ hamedaner u. ſ. w. Jetzt hingegen ſteht der Menſch gegen die Menſchen, oder, da die Menſchen nicht der Menſch ſind, ſo ſteht der Menſch gegen den Unmenſchen. Dem Satze: „Gott iſt Menſch geworden“ folgt nun der andere: „der Menſch iſt Ich geworden“. Dieß iſt das menſchliche Ich. Wir aber kehren's um und ſagen: Ich habe Mich nicht finden können, ſo lange Ich Mich als Men¬ ſchen ſuchte. Nun ſich aber zeigt, daß der Menſch darnach trachtet, Ich zu werden und in Mir eine Leibhaftigkeit zu ge¬ winnen, merke Ich wohl, daß doch Alles auf Mich ankommt, und der Menſch ohne Mich verloren iſt. Ich mag aber nicht zum Schrein dieſes Allerheiligſten Mich hingeben und werde

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/190>, abgerufen am 24.11.2024.