Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

nen, und so alles Weltliche zu heiligen. ("Einen Kuß in
Ehren kann niemand wehren." Der Geist der Ehrbarkeit hei¬
ligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er er¬
klärt sich an irgend einer Stelle dafür: "er wolle Lutheraner
bleiben") die vollständige Durchführung des Begriffs durch
Alles. In allem ist Vernunft, d.h. heiliger Geist, oder "das
Wirkliche ist vernünftig". Das Wirkliche ist nämlich in der
That Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit auf¬
gedeckt werden kann: es giebt keine absolute Lüge, kein absolut
Böses u. dergl.

Große "Geisteswerke" wurden fast nur von Protestanten
geschaffen, da sie allein die wahren Jünger und Vollbringer
des Geistes waren.


Wie weniges vermag der Mensch zu bezwingen! Er muß
die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer seine Wellen treiben,
die Berge zum Himmel ragen lassen. So steht er machtlos
vor dem Unbezwinglichen. Kann er sich des Eindruckes
erwehren, daß er gegen diese riesenhafte Welt ohnmächtig
sei? Sie ist ein festes Gesetz, dem er sich unterwerfen muß,
sie bestimmt sein Schicksal. Wohin arbeitete nun die vor¬
christliche Menschheit? Dahin, das Einstürmen der Geschicke
loszuwerden, sich durch sie nicht alteriren zu lassen. Die
Stoiker erreichten dieß in der Apathie, indem sie die Angriffe
der Natur für gleichgültig erklärten, und sich nicht dadurch
afficiren ließen. Horaz spricht das berühmte Nil admirari
aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern,
der Welt, bekundet: sie soll auf Uns nicht einwirken, Unser
Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae

nen, und ſo alles Weltliche zu heiligen. („Einen Kuß in
Ehren kann niemand wehren.“ Der Geiſt der Ehrbarkeit hei¬
ligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er er¬
klärt ſich an irgend einer Stelle dafür: „er wolle Lutheraner
bleiben“) die vollſtändige Durchführung des Begriffs durch
Alles. In allem iſt Vernunft, d.h. heiliger Geiſt, oder „das
Wirkliche iſt vernünftig“. Das Wirkliche iſt nämlich in der
That Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit auf¬
gedeckt werden kann: es giebt keine abſolute Lüge, kein abſolut
Böſes u. dergl.

Große „Geiſteswerke“ wurden faſt nur von Proteſtanten
geſchaffen, da ſie allein die wahren Jünger und Vollbringer
des Geiſtes waren.


Wie weniges vermag der Menſch zu bezwingen! Er muß
die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer ſeine Wellen treiben,
die Berge zum Himmel ragen laſſen. So ſteht er machtlos
vor dem Unbezwinglichen. Kann er ſich des Eindruckes
erwehren, daß er gegen dieſe rieſenhafte Welt ohnmächtig
ſei? Sie iſt ein feſtes Geſetz, dem er ſich unterwerfen muß,
ſie beſtimmt ſein Schickſal. Wohin arbeitete nun die vor¬
chriſtliche Menſchheit? Dahin, das Einſtürmen der Geſchicke
loszuwerden, ſich durch ſie nicht alteriren zu laſſen. Die
Stoiker erreichten dieß in der Apathie, indem ſie die Angriffe
der Natur für gleichgültig erklärten, und ſich nicht dadurch
afficiren ließen. Horaz ſpricht das berühmte Nil admirari
aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern,
der Welt, bekundet: ſie ſoll auf Uns nicht einwirken, Unſer
Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0130" n="122"/>
nen, und &#x017F;o alles Weltliche zu <hi rendition="#g">heiligen</hi>. (&#x201E;Einen Kuß in<lb/>
Ehren kann niemand wehren.&#x201C; Der Gei&#x017F;t der Ehrbarkeit hei¬<lb/>
ligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er er¬<lb/>
klärt &#x017F;ich an irgend einer Stelle dafür: &#x201E;er wolle Lutheraner<lb/>
bleiben&#x201C;) die voll&#x017F;tändige Durchführung des Begriffs durch<lb/>
Alles. In allem i&#x017F;t Vernunft, d.h. heiliger Gei&#x017F;t, oder &#x201E;das<lb/>
Wirkliche i&#x017F;t vernünftig&#x201C;. Das Wirkliche i&#x017F;t nämlich in der<lb/>
That Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit auf¬<lb/>
gedeckt werden kann: es giebt keine ab&#x017F;olute Lüge, kein ab&#x017F;olut<lb/>&#x017F;es u. dergl.</p><lb/>
              <p>Große &#x201E;Gei&#x017F;teswerke&#x201C; wurden fa&#x017F;t nur von Prote&#x017F;tanten<lb/>
ge&#x017F;chaffen, da &#x017F;ie allein die wahren Jünger und Vollbringer<lb/>
des <hi rendition="#g">Gei&#x017F;tes</hi> waren.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <p>Wie weniges vermag der Men&#x017F;ch zu bezwingen! Er muß<lb/>
die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer &#x017F;eine Wellen treiben,<lb/>
die Berge zum Himmel ragen la&#x017F;&#x017F;en. So &#x017F;teht er machtlos<lb/>
vor dem <hi rendition="#g">Unbezwinglichen</hi>. Kann er &#x017F;ich des Eindruckes<lb/>
erwehren, daß er gegen die&#x017F;e rie&#x017F;enhafte Welt <hi rendition="#g">ohnmächtig</hi><lb/>
&#x017F;ei? Sie i&#x017F;t ein fe&#x017F;tes <hi rendition="#g">Ge&#x017F;etz</hi>, dem er &#x017F;ich unterwerfen muß,<lb/>
&#x017F;ie be&#x017F;timmt &#x017F;ein <hi rendition="#g">Schick&#x017F;al</hi>. Wohin arbeitete nun die vor¬<lb/>
chri&#x017F;tliche Men&#x017F;chheit? Dahin, das Ein&#x017F;türmen der Ge&#x017F;chicke<lb/>
loszuwerden, &#x017F;ich durch &#x017F;ie nicht <hi rendition="#g">alteriren</hi> zu la&#x017F;&#x017F;en. Die<lb/>
Stoiker erreichten dieß in der Apathie, indem &#x017F;ie die Angriffe<lb/>
der Natur für <hi rendition="#g">gleichgültig</hi> erklärten, und &#x017F;ich nicht dadurch<lb/>
afficiren ließen. Horaz &#x017F;pricht das berühmte <hi rendition="#aq">Nil admirari</hi><lb/>
aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des <hi rendition="#g">Andern</hi>,<lb/>
der Welt, bekundet: &#x017F;ie &#x017F;oll auf Uns nicht einwirken, Un&#x017F;er<lb/>
Staunen nicht erregen. Und jenes <hi rendition="#aq">impavidum ferient ruinae</hi><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0130] nen, und ſo alles Weltliche zu heiligen. („Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren.“ Der Geiſt der Ehrbarkeit hei¬ ligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er er¬ klärt ſich an irgend einer Stelle dafür: „er wolle Lutheraner bleiben“) die vollſtändige Durchführung des Begriffs durch Alles. In allem iſt Vernunft, d.h. heiliger Geiſt, oder „das Wirkliche iſt vernünftig“. Das Wirkliche iſt nämlich in der That Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit auf¬ gedeckt werden kann: es giebt keine abſolute Lüge, kein abſolut Böſes u. dergl. Große „Geiſteswerke“ wurden faſt nur von Proteſtanten geſchaffen, da ſie allein die wahren Jünger und Vollbringer des Geiſtes waren. Wie weniges vermag der Menſch zu bezwingen! Er muß die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer ſeine Wellen treiben, die Berge zum Himmel ragen laſſen. So ſteht er machtlos vor dem Unbezwinglichen. Kann er ſich des Eindruckes erwehren, daß er gegen dieſe rieſenhafte Welt ohnmächtig ſei? Sie iſt ein feſtes Geſetz, dem er ſich unterwerfen muß, ſie beſtimmt ſein Schickſal. Wohin arbeitete nun die vor¬ chriſtliche Menſchheit? Dahin, das Einſtürmen der Geſchicke loszuwerden, ſich durch ſie nicht alteriren zu laſſen. Die Stoiker erreichten dieß in der Apathie, indem ſie die Angriffe der Natur für gleichgültig erklärten, und ſich nicht dadurch afficiren ließen. Horaz ſpricht das berühmte Nil admirari aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern, der Welt, bekundet: ſie ſoll auf Uns nicht einwirken, Unſer Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/130
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/130>, abgerufen am 22.11.2024.