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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein
Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll Ich, wenn Ich ohne
Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die
Moral vorschreibt, ohne Rücksicht auf die Stimme der Ver¬
nunft, welche im Lauf der Geschichte nach bitteren Erfahrun¬
gen das Beste und Vernünftigste zum Gesetze erhoben hat, le¬
diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine
Leidenschaft würde Mir gerade zum Unsinnigsten rathen. --
So hält Jeder sich selbst für den -- Teufel; denn hielte er
sich, sofern er um Religion u. s. w. unbekümmert ist, nur für
ein Thier, so fände er leicht, daß das Thier, das doch nur sei¬
nem
Antriebe (gleichsam seinem Rathe) folgt, sich nicht zum
"Unsinnigsten" räth und treibt, sondern sehr richtige Schritte
thut. Allein die Gewohnheit religiöser Denkungsart hat unsern
Geist so arg befangen, daß Wir vor Uns in unserer Nacktheit
und Natürlichkeit -- erschrecken; sie hat Uns so erniedrigt, daß
Wir Uns für erbsündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬
lich fällt Euch sogleich ein, daß Euer Beruf erheische, das
"Gute" zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun,
wenn Ihr Euch fragt, was zu thun sei, die rechte Stimme
aus Euch heraufschallen, die Stimme, welche den Weg des
Guten, Rechten, Wahren u. s. w. zeigt? Wie stimmt Gott
und Belial?

Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬
derte: daß man auf Gott, Gewissen, Pflichten, Gesetze u. s. w.
hören solle, das seien Flausen, mit denen man Euch Kopf
und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und
wenn er Euch früge, woher Ihr's denn so sicher wißt, daß
die Naturstimme eine Verführerin sei? Und wenn er Euch
gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬

geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein
Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne
Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die
Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬
nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬
gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬
diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine
Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. —
So hält Jeder ſich ſelbſt für den — Teufel; denn hielte er
ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für
ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur ſei¬
nem
Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum
„Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte
thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern
Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor Uns in unſerer Nacktheit
und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß
Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬
lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das
„Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun,
wenn Ihr Euch fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme
aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des
Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott
und Belial?

Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬
derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w.
hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf
und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und
wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß
die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch
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[213/0221] geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬ nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬ gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬ diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. — So hält Jeder ſich ſelbſt für den — Teufel; denn hielte er ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur ſei¬ nem Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum „Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor Uns in unſerer Nacktheit und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬ lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das „Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun, wenn Ihr Euch fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott und Belial? Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬ derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w. hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/221>, abgerufen am 26.11.2024.