gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern! Wie soll Ich, wenn Ich ohne Rücksicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorschreibt, ohne Rücksicht auf die Stimme der Ver¬ nunft, welche im Lauf der Geschichte nach bitteren Erfahrun¬ gen das Beste und Vernünftigste zum Gesetze erhoben hat, le¬ diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenschaft würde Mir gerade zum Unsinnigsten rathen. -- So hält Jeder sich selbst für den -- Teufel; denn hielte er sich, sofern er um Religion u. s. w. unbekümmert ist, nur für ein Thier, so fände er leicht, daß das Thier, das doch nur sei¬ nem Antriebe (gleichsam seinem Rathe) folgt, sich nicht zum "Unsinnigsten" räth und treibt, sondern sehr richtige Schritte thut. Allein die Gewohnheit religiöser Denkungsart hat unsern Geist so arg befangen, daß Wir vor Uns in unserer Nacktheit und Natürlichkeit -- erschrecken; sie hat Uns so erniedrigt, daß Wir Uns für erbsündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬ lich fällt Euch sogleich ein, daß Euer Beruf erheische, das "Gute" zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun, wenn Ihr Euch fragt, was zu thun sei, die rechte Stimme aus Euch heraufschallen, die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren u. s. w. zeigt? Wie stimmt Gott und Belial?
Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬ derte: daß man auf Gott, Gewissen, Pflichten, Gesetze u. s. w. hören solle, das seien Flausen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn so sicher wißt, daß die Naturstimme eine Verführerin sei? Und wenn er Euch gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬
geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬ nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬ gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬ diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. — So hält Jeder ſich ſelbſt für den — Teufel; denn hielte er ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur ſei¬ nem Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum „Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor Uns in unſerer Nacktheit und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬ lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das „Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun, wenn Ihr Euch fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott und Belial?
Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬ derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w. hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0221"n="213"/>
geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein<lb/>
Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne<lb/>
Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die<lb/>
Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬<lb/>
nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬<lb/>
gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬<lb/>
diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine<lb/>
Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. —<lb/>
So hält Jeder ſich ſelbſt für den —<hirendition="#g">Teufel</hi>; denn hielte er<lb/>ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für<lb/>
ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur <hirendition="#g">ſei¬<lb/>
nem</hi> Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum<lb/>„Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte<lb/>
thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern<lb/>
Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor <hirendition="#g">Uns</hi> in unſerer Nacktheit<lb/>
und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß<lb/>
Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬<lb/>
lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das<lb/>„Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun,<lb/>
wenn Ihr <hirendition="#g">Euch</hi> fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme<lb/>
aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des<lb/>
Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott<lb/>
und Belial?</p><lb/><p>Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬<lb/>
derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w.<lb/>
hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf<lb/>
und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und<lb/>
wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß<lb/>
die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch<lb/>
gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[213/0221]
geſetzloſen Trieben, Begierden, Wünſchen, Leidenſchaften, ein
Chaos ohne Licht und Leitſtern! Wie ſoll Ich, wenn Ich ohne
Rückſicht auf Gottes Gebote oder auf die Pflichten, welche die
Moral vorſchreibt, ohne Rückſicht auf die Stimme der Ver¬
nunft, welche im Lauf der Geſchichte nach bitteren Erfahrun¬
gen das Beſte und Vernünftigſte zum Geſetze erhoben hat, le¬
diglich Mich frage, eine richtige Antwort erhalten? Meine
Leidenſchaft würde Mir gerade zum Unſinnigſten rathen. —
So hält Jeder ſich ſelbſt für den — Teufel; denn hielte er
ſich, ſofern er um Religion u. ſ. w. unbekümmert iſt, nur für
ein Thier, ſo fände er leicht, daß das Thier, das doch nur ſei¬
nem Antriebe (gleichſam ſeinem Rathe) folgt, ſich nicht zum
„Unſinnigſten“ räth und treibt, ſondern ſehr richtige Schritte
thut. Allein die Gewohnheit religiöſer Denkungsart hat unſern
Geiſt ſo arg befangen, daß Wir vor Uns in unſerer Nacktheit
und Natürlichkeit — erſchrecken; ſie hat Uns ſo erniedrigt, daß
Wir Uns für erbſündlich, für geborene Teufel halten. Natür¬
lich fällt Euch ſogleich ein, daß Euer Beruf erheiſche, das
„Gute“ zu thun, das Sittliche, das Rechte. Wie kann nun,
wenn Ihr Euch fragt, was zu thun ſei, die rechte Stimme
aus Euch heraufſchallen, die Stimme, welche den Weg des
Guten, Rechten, Wahren u. ſ. w. zeigt? Wie ſtimmt Gott
und Belial?
Was würdet Ihr aber denken, wenn Euch Einer erwie¬
derte: daß man auf Gott, Gewiſſen, Pflichten, Geſetze u. ſ. w.
hören ſolle, das ſeien Flauſen, mit denen man Euch Kopf
und Herz vollgepfropft und Euch verrückt gemacht habe? Und
wenn er Euch früge, woher Ihr's denn ſo ſicher wißt, daß
die Naturſtimme eine Verführerin ſei? Und wenn er Euch
gar zumuthete, die Sache umzukehren, und geradezu die Got¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/221>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.