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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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""Mathilde,"" sagte ich, ""ich habe nicht Weib
nicht Kind nicht Anverwandte. Du warst das Ein¬
zige, was ich in meinem ganzen Leben besaß, und be¬
hielt. Lasse mir den Knaben, lasse ihn bei mir, ich
will ihn lehren, ich will ihn erziehen.""

""O mein Gustav,"" rief sie mit den schmerzlich¬
sten Tönen der Rührung, ""wie wahr ist mein Ge¬
fühl, das mich an dich den besten der Menschen wies,
als ich ein Kind war, und das mich nicht verlassen
hatte, so lange ich lebte.""

"Sie war aufgestanden, hatte ihr Haupt auf meine
Schulter gelegt, und weinte auf das Innigste. Ich
konnte mich nicht mehr beherrschen, meine Thränen
flossen unaufhaltsam, ich schlang meine Arme um sie,
und drückte sie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob
je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele
gedrungen, und zu größrer Höhe erhebend gewesen ist
als dieses verspätete Umfassen der alten Leute, in denen
zwei Herzen zitterten, die von der tiefsten Liebe über¬
quollen. Was im Menschen rein und herrlich ist, bleibt
unverwüstlich, und ist ein Kleinod in allen Zeiten."

"Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich sie zu
ihrem Size, nahm den meinigen wieder ein, und
fragte: ",Hast du noch andere Kinder?""

„„Mathilde,““ ſagte ich, „„ich habe nicht Weib
nicht Kind nicht Anverwandte. Du warſt das Ein¬
zige, was ich in meinem ganzen Leben beſaß, und be¬
hielt. Laſſe mir den Knaben, laſſe ihn bei mir, ich
will ihn lehren, ich will ihn erziehen.““

„„O mein Guſtav,““ rief ſie mit den ſchmerzlich¬
ſten Tönen der Rührung, „„wie wahr iſt mein Ge¬
fühl, das mich an dich den beſten der Menſchen wies,
als ich ein Kind war, und das mich nicht verlaſſen
hatte, ſo lange ich lebte.““

„Sie war aufgeſtanden, hatte ihr Haupt auf meine
Schulter gelegt, und weinte auf das Innigſte. Ich
konnte mich nicht mehr beherrſchen, meine Thränen
floſſen unaufhaltſam, ich ſchlang meine Arme um ſie,
und drückte ſie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob
je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele
gedrungen, und zu größrer Höhe erhebend geweſen iſt
als dieſes verſpätete Umfaſſen der alten Leute, in denen
zwei Herzen zitterten, die von der tiefſten Liebe über¬
quollen. Was im Menſchen rein und herrlich iſt, bleibt
unverwüſtlich, und iſt ein Kleinod in allen Zeiten.“

„Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich ſie zu
ihrem Size, nahm den meinigen wieder ein, und
fragte: „‚Haſt du noch andere Kinder?““

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[344/0358] „„Mathilde,““ ſagte ich, „„ich habe nicht Weib nicht Kind nicht Anverwandte. Du warſt das Ein¬ zige, was ich in meinem ganzen Leben beſaß, und be¬ hielt. Laſſe mir den Knaben, laſſe ihn bei mir, ich will ihn lehren, ich will ihn erziehen.““ „„O mein Guſtav,““ rief ſie mit den ſchmerzlich¬ ſten Tönen der Rührung, „„wie wahr iſt mein Ge¬ fühl, das mich an dich den beſten der Menſchen wies, als ich ein Kind war, und das mich nicht verlaſſen hatte, ſo lange ich lebte.““ „Sie war aufgeſtanden, hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt, und weinte auf das Innigſte. Ich konnte mich nicht mehr beherrſchen, meine Thränen floſſen unaufhaltſam, ich ſchlang meine Arme um ſie, und drückte ſie an mein Herz. Und ich weiß nicht, ob je der heiße Kuß der Jugendliebe tiefer in die Seele gedrungen, und zu größrer Höhe erhebend geweſen iſt als dieſes verſpätete Umfaſſen der alten Leute, in denen zwei Herzen zitterten, die von der tiefſten Liebe über¬ quollen. Was im Menſchen rein und herrlich iſt, bleibt unverwüſtlich, und iſt ein Kleinod in allen Zeiten.“ „Als wir uns getrennt hatten, geleitete ich ſie zu ihrem Size, nahm den meinigen wieder ein, und fragte: „‚Haſt du noch andere Kinder?““

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/358>, abgerufen am 18.05.2024.