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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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werk, was im eignen Herzen lebt. Daher kömmt die
Erscheinung, daß Werke von bedeutend verschiedener
Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können,
und daß Erzeugnisse höchster Größe, wenn sie keine
Wiederspieglung der Jugendblüthe sind, nicht erfaßt
werden können. In dem Alter werden selbst solche
Glanzstellen der Jugend, die schon sehr ferne liegen,
wie etwa die Sehnsucht der ersten Liebe mit ihrer
Dunkelheit und Grenzenlosigkeit, oder wie die holde
und berauschende Seligkeit der Gegenliebe, oder die
Träume künftiger Thaten und künftiger Größe, der
Blick in ein unendliches erst kommendes Leben oder
wie das erste Stammeln in irgend einer Kunst von
dem Greise in dem sanften Spiegel seiner Erinnerung
beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der sie
in dem Brausen seines Lebens überhört, und an der
grauen Wimper mag manche beseligendere und mit¬
unter schmerzlichere Thräne hängen als der feurige
Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem
Auge des Jünglings springt, und keine Spur hinter¬
läßt. Ich lese jezt selten mehr die größten Geister im
Zusammenhange -- mit kleineren thue ich es wohl,
weil sie in einzelnen Stellen minder bedeutend sind --
aber ich lese immer in ihnen, und werde wohl bis zu

werk, was im eignen Herzen lebt. Daher kömmt die
Erſcheinung, daß Werke von bedeutend verſchiedener
Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können,
und daß Erzeugniſſe höchſter Größe, wenn ſie keine
Wiederſpieglung der Jugendblüthe ſind, nicht erfaßt
werden können. In dem Alter werden ſelbſt ſolche
Glanzſtellen der Jugend, die ſchon ſehr ferne liegen,
wie etwa die Sehnſucht der erſten Liebe mit ihrer
Dunkelheit und Grenzenloſigkeit, oder wie die holde
und berauſchende Seligkeit der Gegenliebe, oder die
Träume künftiger Thaten und künftiger Größe, der
Blick in ein unendliches erſt kommendes Leben oder
wie das erſte Stammeln in irgend einer Kunſt von
dem Greiſe in dem ſanften Spiegel ſeiner Erinnerung
beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der ſie
in dem Brauſen ſeines Lebens überhört, und an der
grauen Wimper mag manche beſeligendere und mit¬
unter ſchmerzlichere Thräne hängen als der feurige
Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem
Auge des Jünglings ſpringt, und keine Spur hinter¬
läßt. Ich leſe jezt ſelten mehr die größten Geiſter im
Zuſammenhange — mit kleineren thue ich es wohl,
weil ſie in einzelnen Stellen minder bedeutend ſind —
aber ich leſe immer in ihnen, und werde wohl bis zu

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[52/0066] werk, was im eignen Herzen lebt. Daher kömmt die Erſcheinung, daß Werke von bedeutend verſchiedener Geltung die Jugend auf gleiche Art entzücken können, und daß Erzeugniſſe höchſter Größe, wenn ſie keine Wiederſpieglung der Jugendblüthe ſind, nicht erfaßt werden können. In dem Alter werden ſelbſt ſolche Glanzſtellen der Jugend, die ſchon ſehr ferne liegen, wie etwa die Sehnſucht der erſten Liebe mit ihrer Dunkelheit und Grenzenloſigkeit, oder wie die holde und berauſchende Seligkeit der Gegenliebe, oder die Träume künftiger Thaten und künftiger Größe, der Blick in ein unendliches erſt kommendes Leben oder wie das erſte Stammeln in irgend einer Kunſt von dem Greiſe in dem ſanften Spiegel ſeiner Erinnerung beglückender aufgefaßt als von dem Jünglinge, der ſie in dem Brauſen ſeines Lebens überhört, und an der grauen Wimper mag manche beſeligendere und mit¬ unter ſchmerzlichere Thräne hängen als der feurige Funke, der in überwältigender Empfindung aus dem Auge des Jünglings ſpringt, und keine Spur hinter¬ läßt. Ich leſe jezt ſelten mehr die größten Geiſter im Zuſammenhange — mit kleineren thue ich es wohl, weil ſie in einzelnen Stellen minder bedeutend ſind — aber ich leſe immer in ihnen, und werde wohl bis zu

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/66>, abgerufen am 22.11.2024.