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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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Wegnelken die Glocken und andere. Oft pflücke ich
auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir
stehen."

Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein
unter der Esche der Felderrast size. Ihre Fußspizen
ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen
Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte
denselben Staub. In der Krone der Esche rührte sich
kein Blättchen; denn die Luft war still. Weit vor
uns hinabgehend und weit zu unserer Rechten und
Linken hin, so wie rückwärts war das grüne der Reife
entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume des¬
selben, der uns am nächsten war, sahen uns der rothe
Mohn und die blauen Kornblumen an. Die Sonne
ging dem Untergange zu, und der Himmel glänzte an
der Stelle, gegen die sie ging, fast weißglühend über
die Saatfelder herüber, keine Wolke war, und das
Hochgebirge stand rein und scharf geschnitten an dem
südlichen Himmel.

"Und habt ihr bei dem rothen Kreuze auch ein
wenig geruht?" fragte ich nach einer Weile.

"Bei dem rothen Kreuze habe ich nicht geruht,"
antwortete sie, "man kann dort nicht ruhen, es steht
fast unter lauter Halmen des Getreides, ich lehnte

Wegnelken die Glocken und andere. Oft pflücke ich
auch keine Blumen, wenn ſie noch ſo reichlich vor mir
ſtehen.“

Mir war es ſeltſam, daß ich mit Natalien allein
unter der Eſche der Felderraſt ſize. Ihre Fußſpizen
ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen
Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte
denſelben Staub. In der Krone der Eſche rührte ſich
kein Blättchen; denn die Luft war ſtill. Weit vor
uns hinabgehend und weit zu unſerer Rechten und
Linken hin, ſo wie rückwärts war das grüne der Reife
entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume des¬
ſelben, der uns am nächſten war, ſahen uns der rothe
Mohn und die blauen Kornblumen an. Die Sonne
ging dem Untergange zu, und der Himmel glänzte an
der Stelle, gegen die ſie ging, faſt weißglühend über
die Saatfelder herüber, keine Wolke war, und das
Hochgebirge ſtand rein und ſcharf geſchnitten an dem
ſüdlichen Himmel.

„Und habt ihr bei dem rothen Kreuze auch ein
wenig geruht?“ fragte ich nach einer Weile.

„Bei dem rothen Kreuze habe ich nicht geruht,“
antwortete ſie, „man kann dort nicht ruhen, es ſteht
faſt unter lauter Halmen des Getreides, ich lehnte

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[317/0331] Wegnelken die Glocken und andere. Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn ſie noch ſo reichlich vor mir ſtehen.“ Mir war es ſeltſam, daß ich mit Natalien allein unter der Eſche der Felderraſt ſize. Ihre Fußſpizen ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte denſelben Staub. In der Krone der Eſche rührte ſich kein Blättchen; denn die Luft war ſtill. Weit vor uns hinabgehend und weit zu unſerer Rechten und Linken hin, ſo wie rückwärts war das grüne der Reife entgegen harrende Getreide. Aus dem Saume des¬ ſelben, der uns am nächſten war, ſahen uns der rothe Mohn und die blauen Kornblumen an. Die Sonne ging dem Untergange zu, und der Himmel glänzte an der Stelle, gegen die ſie ging, faſt weißglühend über die Saatfelder herüber, keine Wolke war, und das Hochgebirge ſtand rein und ſcharf geſchnitten an dem ſüdlichen Himmel. „Und habt ihr bei dem rothen Kreuze auch ein wenig geruht?“ fragte ich nach einer Weile. „Bei dem rothen Kreuze habe ich nicht geruht,“ antwortete ſie, „man kann dort nicht ruhen, es ſteht faſt unter lauter Halmen des Getreides, ich lehnte

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/331>, abgerufen am 22.11.2024.